Geschichtsbewusstsein fehlt

Lesedauer

Zum Interview mit Werner J. Patzelt "Zum Schaden seiner Partei" vom 1. September:

Der konservative Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt äußert sich in einem Interview des "MM" im Wesentlichen zur jüngsten Aussage des AfD-Chefs Meuthen, der die strikte Abgrenzung zur NPD nicht für nötig hält. Er widerspricht der politischen Aufgeregtheit über die Aussagen von Meuthen und nennt sie einfach Torheit. Dem könnte man zustimmen, wäre da nicht die Gefahr, dass rechtsextremes Gedankengut salonfähig gemacht wird.

Den übrigen Analysen kann ich eher zustimmen. Problem dabei ist, dass sie nur aktuelle Entwicklungen beschreiben und uns nicht helfen, dem Problem näher zu kommen. Richtig ist, dass es eine politische Entwicklung zugunsten rot-grüner Gedankenwelten gegeben hat und die CDU unter Merkel in diese Richtung gegangen ist. Womit rechts von der Mitte eine Lücke entstanden ist, die die AfD nun nutzen kann. Richtig ist auch, dass in den Augen der System-, der Politik- und Parteienverdrossenen "die politisch mediale Klasse abgehoben und selbstbezogen ist. Und dass diese einen Großteil des Volkes für politisch schief gewickelt, unintelligent und deshalb nicht weiter beachtenswert hält".

Er verweist zudem auf die viel niedrigeren Zustimmungs- und Vertrauensraten zu unserer Demokratie im Osten. "Allgemeine Politiker- und Parteienverdrossenheit gab es schon in den 1990ern, und im Osten viel stärker als im Westen. Die Auslöserthemen wechselten, der Unmut blieb. Ein Teil der Bevölkerung will mit einer Protestpartei die etablierten Eliten aufwecken und aufwirbeln". Ich halte diese Analyse im Großen und Ganzen für richtig. Nur was folgt daraus? Was muss geschehen, damit es anstelle von Protestwahlen zu Entscheidungen in der Politik kommt, die dem Willen derer nahekommen, die nicht rechtsextrem, nicht rassistisch, nicht ausländerfeindlich ticken?

Da ist einmal das Problem, dass ein hoher Anteil dieser Protestwähler weder Geschichtsbewusstsein und damit einen Sinn für die Gefahren rechter Propaganda noch die Fähigkeit hat, ihre Bedürfnisse zu erkennen und daraus politische Forderungen zu entwickeln. Ja, sie haben keine Ideen, welche Änderungen in der Gesellschaft zur Befriedigung ihrer Interessen führen könnten. Die andere Seite der Medaille ist, dass die Parteien, die die Mehrheiten für die praktizierte Politik stellen, eben auch keine Fähigkeit haben, um zu erkennen, was einem Großteil der Menschen fehlt und was die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts an Veränderungen als Reaktion auf die technisch-wirtschaftlichen Revolutionen braucht.

Mit kosmetischen Änderungen ist der wachsenden Ungleichheit in Lebenschancen, Einkommen und Vermögen nicht mehr beizukommen. Ich habe erhebliche Zweifel, dass selbst eine entschiedene Politik für die Umkehrung dieses in die falsche Richtung laufenden dynamischen Prozesses von denen, die sie am meisten brauchen, verstanden und unterstützt würde.

Ein Aspekt ist sicherlich die mangelnde politische Bildung. Wir haben zu wenig politische Bildung in unseren Schulen. Selbst scheinbar Gebildete haben noch nie etwas von soziologischen oder politikwissenschaftlichen Untersuchungen gehört, geschweige denn, dass sie diese verstehen würden. Selbst "Gebildete" argumentieren auf individualistischer Ebene, wenn es um gesellschaftliche Phänomene geht, die oft nur mit wissenschaftlichen Instrumenten erschlossen werden können - oder mit gesundem Menschenverstand - der leider Vielen abhandengekommen ist - zu verstehen sind.

Dagegen verstehen sie Sarrazin und kommen zu solchen kruden Aussagen, wie jüngst von einem AfD-geneigten Ingenieur gehört, der meinte, die Muslime wollten uns alle dominieren. Ein Beleg sei, dass in diesen Ländern (gemeint sind wohl die Länder mit islamischer Kultur) die Muslime - schon - die Mehrheit hätten. Und das war nicht witzig gemeint. In einer komplexen Welt ist eben nicht nur die technische oder die wirtschaftliche Welt kompliziert, es ist auch die politische Welt, die nicht ohne Wissen und Bildung erschlossen werden kann.

Mehr zum Thema

Rechtspartei Greift Björn Höcke nach dem Vorsitz?

Veröffentlicht
Mehr erfahren