Neben Studien auch mehr Praxis

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Zum Debattenbeitrag "Wie viel Digitalisierung ist schädlich für unsere Kinder, Herr Spitzer?" vom 11. März:

Manfred Spitzer ist ein anerkannter Psychiater und Psychologe. Sicherlich kann er zu allen Themen etwas sagen, die mit dem menschlichen Körper zu tun haben, ist das Gehirn doch als zentrales Steuerungs- und Koordinationsorgan für den menschlichen Körper zuständig.

Einige seiner Thesen sind einleuchtend, aber nicht alle. Hinweise und Bedenken ausschließlich in Form von Studien führen uns in der Praxis an den Schulen nicht weiter. Man muss nur mal der theoretischen Ebene einer Hochschule den Rücken kehren und die Kinder beim Verlassen der Schule (auch der Grundschule) beobachten. Der erste Griff geht zum Handy. Eine grundsätzliche Ablehnung digitaler Medien vonseiten der Schule ist daher unrealistisch.

Die Medien in Form von Smartphones sind bereits durch die Schüler in den Schulen angekommen. Dies beginnt bereits im Grundschulalter. Die Schule darf die Kinder nicht alleine lassen, sondern muss darauf reagieren, aber nicht mit Verboten oder überzogenen Bedenken. Es gilt das alte pädagogische Prinzip: An der Erfahrungswelt der Kinder anknüpfen. Die Chancen nutzen und die Realität kontrolliert und altersgemäß in die Bildung einfließen lassen.

Schon immer gab es neue Technologien, deren Vorteile und Nachteile im Einsatz abzuwägen sind. Die Lehrerfortbildung bietet neben der Nutzung von Tablets eine Vielzahl von Themen zur digitalen Bildung an. Wie sich durch den Einsatz von digitalen Medien die Noten im Unterricht verändern, wird schwer zu beweisen sein. Dafür kann es keine statistischen Vergleichsgruppen geben, sowohl aufseiten der Lehrer als auch aufseiten der Schüler. Dafür ist Unterricht viel zu komplex und zu sehr von der Lehrerpersönlichkeit und seinen Fähigkeiten abhängig.

Ein Lehrer mit sehr guten dramaturgischen Fähigkeiten kann im Geschichtsunterricht im Rahmen seiner Erzählungen die Schüler begeistern, wenn Hannibal mit seinen Elefanten über die Alpen zieht. Ein Englischlehrer motiviert seine Schüler durch einen Zugriff auf eine aktuelle englische Zeitung im Internet, oder durch einen Chat mit einer befreundeten Klasse in England. Was spricht gegen die Nutzung von Mathematik-Tutorials auf Youtube, um den Nachhilfelehrer zu ergänzen oder gar überflüssig werden zu lassen?

Es gibt in der schulischen Praxis eine Fülle von Beispielen, die von Versuchsschulen erprobt werden. Derzeit verstärkt in den Grundschulen des Landes Baden-Württemberg und Projekte im Einsatz von Tablets an Gymnasien und beruflichen Schulen. In der Tat, der Abschied von der Kreide in den Schulen ist ein zäher Prozess. Dieser Prozess wird durch renommierte Bedenkenträger noch erschwert. Bereits mit der Medienoffensive II im Jahr 2002 ist Baden-Württemberg auf gutem Wege digitale Medien im Unterricht erfolgreich einzusetzen. Unterstützt wird diese Offensive von der Landeslehrerfortbildung, den Seminaren für Lehrerausbildung, dem Landesmedienzentrum und den Kreis- und Stadtbildstellen der jeweiligen Schulträger.

Ich habe viele Jahre in meiner Praxis mit lernbehinderten Kindern gearbeitet. Mit Besorgnis sehe ich die Entwicklung zu immer mehr Digitalisierung und frage mich, wohin das die Bildung der nächsten Generation bringen wird. Schon die Methode, das Lesen und Schreiben per Druckschrift zu erlernen, zeigt seine Auswirkungen in unleserlicher Handschrift. Das Bemühen, dies mit entsprechenden Übungen zu verbessern, führte meist zum Erfolg.

Was ich als geradezu alarmierend empfinde, ist die Tatsache, dass bereits Zweijährige mit entsprechendem Handy und Laptop "spielen". Bei der Rumtapserei auf irgendwelchen Knöpfen, die dann irgendwelche anderen Knöpfe zum Leuchten und Blinken bringen, kann der Lerneffekt für das Gehirn nicht sehr groß sein. Kein Be-greifen von Bauklötzen und Ähnlichem, kein Erfassen von Größe. Bereits in der Grundschule ist das Benutzen eines Rechners gestattet, was mir unbegreiflich ist. Zu einer Ausweitung der Digitalisierung in den Schulen habe ich die größten Bedenken, da diese Art des Lernens, meiner langjährigen Erfahrung nach, für Lernprozesse des Gehirns nicht besonders förderlich ist.

Leider muss ich Ihnen in allen Punkten recht geben. Es ist katastrophal! Noch katastrophaler ist, dass nichts dagegen unternommen wird. Die sprichwörtliche Verdummung kann man aber nicht nur bei Jugendlichen feststellen.