Ohrfeige für alle in der Bildungspolitik

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Zum Debattenbeitrag "Brauchen wir eine bildungspolitische Revolte, Herr Kraus?" vom 8. April:

Dieser Aufsatz ist eine schallende Ohrfeige für alle, die sich mit Bildungspolitik beschäftigen. Ich selbst bin Jahrgang 1944 und habe 1961 die "mittlere Reife" bestanden. Einige Jahre im Personaleinsatz/Personalwesen eines internationalen Konzerns tätig, hatte ich die Gelegenheit, die Bewerbungsschreiben damaliger Abiturienten einzusehen und kann hier bestätigen, dass diese "kreative" Rechtschreibung bereits damals "gang und gäbe" war. Das war vor der Rechtschreibreform. Unsere eigene Tochter, Jahrgang 1968, ist in ihren späteren Schuljahren der "Mengenlehre zum Opfer gefallen".

Finger in die Wunde

Wir meinen, hier legt einer mit profunden Kenntnissen die Finger in die Wunden eines Schulsystems, das durch eine inkompetente, föderalistische Kulturpolitik und deren Zuarbeiter, wie einige Lehrer-Verbände, sogenannte "Elternbeiräte" und deren Interessenvertreter bestimmt wird. Wir sagen "Ja", wir brauchen eine bildungspolitische Revolte, und zwar auf Landes- und Bundesebene.

Dies ist die beste Frage zur desaströsesten Situation einer völlig verblödeten Gesellschaft dieses Landes, die in dieser Zeitung je gestellt wurde. Ich lese sie seit über 35 Jahren. Danke für die Debatte und Dank an Herrn Kraus für seine klare Meinung als Antwort.

Der Gymnasiallehrer und Schulpsychologe Josef Kraus spricht mir aus der Seele. Mit meinen pädagogischen Erfahrungen kann ich seine Thesen nur unterstreichen. Allerdings glaube ich an keine Revolte von Seiten der Eltern, denn schulpädagogische Erleichterung und Gefälligkeitspolitik, die Wohlfühlpädagogik befördert, ist für Eltern doch so angenehm. Hier müsste meiner Meinung nach von einer verantwortungsvollen Politik, hinsichtlich gesamtgesellschaftlicher Interessen in einer globalen Welt, eine Kehrtwendung eingeleitet werden. Auch dies wird - wie ich mir leider vorstellen kann - erst dann geschehen, wenn "der Karren, zum Leidwesen unserer Gesellschaft, an die Wand gefahren ist". Dann fragt man sich wohl zu unrecht "wie hat dies nur geschehen können?

Nein, wir brauchen keine bildungspolitische Revolte, aber ein wenig mehr Ehrlichkeit. Wenn ein Abiturient auf die Frage: "Was wissen Sie über Ludwig Uhland?" mit der Gegenfrage antwortet: "Uhland? Wie schreibt der sich? Für welchen Verein spielt der?" oder wenn auf die Frage: "Wie viel wiegt die Hälfte von einem halben Pfund Butter?" die Antwort kommt: "Moment, ich hol meinen Rechner", dann ist es wohl nicht glaubwürdig, dass das deutsche Abitur heute deutlich schwerer ist als in der Zeit, in der die Schüler in der Schule noch Gedichte und das "kleine und das große Einmaleins" lernen mussten. Als ehemaliger Gymnasiallehrer (Studiendirektor als Fachabteilungsleiter für Latein und Englisch) kann ich sehr wohl beurteilen, wie sehr die Anforderungen in vielen Fächern im schriftlichen und im mündlichen Abitur im Laufe der Jahre gesenkt worden sind. Ich habe fast 40 Jahre lang schriftliche Abiturarbeiten in Baden-Württemberg korrigiert und mündliche Prüfungen abgenommen. Es ist erschreckend, wie heute auch Personen mit Doktor- oder Professorentitel mit der deutschen Sprache umgehen, sowohl was die Rechtschreibung angeht als auch die Grammatik. Dazu einige Beispiele, gehört von jungen "doctores": "Gestern Abend waren wir im Kino gewesen"; "Ich bin älter wie mein Bruder"; "Ich konnte nicht kommen, weil ich war krank", oder (gelesen in deren Veröffentlichungen): "Ich weiß, das es nicht stimmt", "Ein Freund meines Bruder's hat gesagt" oder: "Er trug immer altmodische T-Shirt's." (Ehrlich: wer weiß, wie es korrekt heißen sollte?).

Natürlich betrifft das Problem nicht nur das Fach Deutsch. Für die meisten Schülerinnen und Schüler weiterführender Schulen in Deutschland ist Englisch die wichtigste Pflichtfremdsprache. Aber: Welche Sprecher oder Moderatoren in unseren Radio- oder TV-Sendern können Wörter wie "action / fiction / connection/ reaction" richtig aussprechen? Diese wenigen Beispiele mögen genügen - wir sind wohl auf dem besten Weg zum "Abitur für alle!"

Zu den sogenannten Debattenbeiträgen vom 8. April (Josef Kraus) und vom 11. März (Manfred Spitzer) kann ich nur sagen: sehr gut, sehr gut, sehr gut! Und das nicht nur inhaltlich. Beide Autoren schreiben allgemeinverständlich, ohne dass man immer wieder im Fremdwörterlexikon nachschlagen muss, was leider bei so manchem Debattenbeitrag erforderlich war.

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