Vlies mit heilender Kraft

Von 
Alexander Jungert
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Im Reinraum steht sie, diese mehrere Meter große Anlage, die so aussieht wie eine Zeitmaschine. In ihr entstehen Vliesstoffe für die Medizintechnik, die sich ein bisschen so anfühlen wie raue Watte. Sie sind biologisch abbaubar und lösen sich nach einiger Zeit im Körper auf. "In der Produktion können zusätzlich Medikamente oder Enzyme so eingearbeitet werden, dass sie gezielt und kontrolliert an der Stelle im Körper abgegeben werden können, wo sie benötigt werden", sagt Denis Reibel (Bild), Projektleiter bei der Weinheimer Freudenberg Gruppe. "Es ergeben sich ganz neue Möglichkeiten zur Therapie." Das Medizinvlies mit dem Namen "scaffolene" soll in der Chirurgie, bei der regenerativen Medizin und bei der Wundheilung einsetzbar sein. Freudenberg bezeichnet sich selbst als Pionier auf diesem Gebiet.

Forschung und Entwicklung laufen seit dem Jahr 2007. Die Grundidee wurde bei einem Gedankenaustausch von Freudenberg und Gelita geboren, wie ein Sprecher des Gelatine-Herstellers mitteilt. Das Eberbacher Unternehmen suchte nach einem Vliesstoff aus Gelatine, der in der Chirurgie zur Blutstillung eingesetzt werden kann und sich im Körper mit der Zeit auflöst. Gelita sollte das Wissen über die Gelatine einbringen, Freudenberg das Wissen über die Fertigung von Vliesstoffen.

Die Herausforderung dabei war: Gelatine ist extrem hitzeanfällig. Trotzdem musste sie für das Produkt bei hohen Temperaturen in Fasern umgewandelt werden. Reibel begann zu experimentieren, unter anderem mit einer handelsüblichen Maschine für Zuckerwatte. Irgendwann klappte es.

Freudenberg trieb die industrielle Entwicklung voran, investierte seit 2007 "einen zweistelligen Millionenbetrag" in die technologische Plattform. Das Herzstück der Produktion im Reinraum, die sogenannte Rotationsspinnanlage, entwickelte Reibel mit einem insgesamt achtköpfigen Team selbst.

Mit den Jahren ist auch die Zahl der Kunden aus der Industrie gewachsen. Aus der ganzen Welt kommen sie: Europa, Amerika, Asien. Mittlerweile, nach mehreren Pilotprojekten, ist die Technologie reif. Jetzt arbeiten die Partner an den medizinischen oder pharmazeutischen Zulassungen. Ziel ist die Serienfertigung; Freudenberg will die Medizin-Vliese als Zulieferer herstellen.

"Scaffolene" ist in trockenem Zustand flexibel und reißfest, in nassem Zustand dagegen elastisch dehnbar, ebenfalls formstabil aber aufgrund ihrer gelartigen Konsistenz modellierbar. Beim Nasswerden klumpe das Vlies nicht, erklärt Reibel. Dadurch sei auch bei Operationen gewährleistet, dass es sicher an den Ort im Körper gelangt, an den es soll. Auch bei der "mikroinvasiven" Chirurgie, die auf kleine Öffnungen statt auf große Schnitte setzt.

Während des Spinnens können Wirkstoffe wie Antibiotika oder Enzyme direkt in die Fasern der Vliese eingebracht werden. Das ist vor allem für die regenerative Medizin bedeutsam. Beispielsweise wenn es darum geht, einen Knochen nach einem Bruch wieder aufzubauen. Vereinfacht gesagt: Das Vlies besteht aus einem Gerüst (in Englisch "scaffold", daher der Name "scaffolene") von einzelnen Fasern, über das Zellen "einwandern" können. Da die Fasern entsprechend angereichert werden, finden die Zellen auch Stoffe für ihren Wiederaufbau.

Das Vlies gibt jeweilige Wirkstoffe nicht zufällig ab. Es wird so konstruiert, dass Dauer und Dosis bestimmt werden können. Wie lange das Vlies braucht, um sich aufzulösen, ist also von Fall zu Fall verschieden. "Das kann in 60 Sekunden passieren oder verzögert werden"", sagt Reibel.

Das Medizinvlies ist von der Entwicklung bis hin zur Produktion eine komplette Weinheimer Geschichte. Fast. 99 Prozent, korrigiert Reibel, wenigstens ein Prozent davon sei französisch. Der Projektleiter stammt aus dem Elsass.

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