Russland Den eigenen Teil der Schuld nicht verdrängen

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Fast täglich nimmt das neue Feindbild Russland stärkere Konturen an. Putin erscheint geradezu als die Personifizierung aller Untugenden. Leicht werden dadurch die eigenen Fehler und der eigene nicht unerhebliche Schuldanteil verdrängt. Es war kein Geringerer als Michael Gorbatschow, der bei seinem Berlinbesuch im November dieses Jahres dem Westen einen Spiegel vorhielt. Er erinnerte daran, dass ihm 1990 bei den Zwei-plus-vier-Gesprächen über die deutsche Einheit zugesagt worden war, dass es keine Ost-Ausdehnung der Nato geben werde. Dieses Versprechen wurde nicht eingehalten; die russische Führung vertraue daher dem Westen nicht mehr.

Gorbatschows Aussagen sind wohlbegründet, denn die Nato ist in den letzten Jahren an die Grenzen Russlands herangerückt. Sie ist expansionistisch, und inzwischen führt die Nato sogar Manöver in der Ukraine durch.

Parallel zur Ausweitung der Bundeswehr bis zur Oder stellten die USA Schritt für Schritt die früheren Satellitenstaaten der Sowjetunion unter die militärische Obhut des Pentagon. Hätte sich der (ehemalige) Warschauer Pakt entsprechend flächenmäßig nach Westen ausgedehnt, stünden heute russische Truppen und Raketen in Frankreich, Italien, Benelux - von Westdeutschland gar nicht zu reden.

Als Kuba 1983 auf der kleinen Karibik-Insel Grenada einen Flughafen baute, haben die Vereinigten Staaten diese Insel kurzerhand besetzt, weil ihnen der Flughafen als Bedrohung erschien - Entfernung bis Washington: ca. 3000 Kilometer. Auch die letzten großen Militäraktionen der USA im Irak und Afghanistan beweisen, dass ihnen der Bruch des Völkerrechts - die Verletzungen von Souveränität und territorialer Unversehrtheit anderer Staaten - kein Hindernis bedeutet, wenn es um die eigenen geopolitischen Interessen geht. Und diese Interessen sind auf lange Fristen ausgelegt.

In seinem Buch "Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft" schreibt Zw. Brzezinski, neben H. Kissinger der prominenteste amerikanische Globalstratege: "Die Ukraine (!) ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt ... Ein erweitertes Europa und eine vergrößerte Nato (!) dienen den kurz- und langfristigen Interessen der US-Politik. Ein erweitertes Europa wird die Reichweite des amerikanischen Einflusses erweitern."

Da die deutsche Regierung diese US-Interessen vorbehaltlos unterstützt und eine Vorreiterrolle beim Ruf nach Sanktionen gegen Russland einnimmt, ist anzunehmen, dass die Belange des eigenen Volkes auf lange Sicht erheblich beschädigt werden.

Nach den vielen Kriegen mit Menschenrechtsverletzungen, Folter und Morden, dem letzten CIA-Bericht sowie den aufgedeckten aktuellen Abhöraffären unserer "alten Freunde" sollten wir kritischer und distanzierter mit den USA umgehen. Nicht vergessen sollte man, welcher prominente Russe es war - nämlich Gorbatschow -, der die Einkreisungspolitik Russlands durch die EU und Nato beklagt hat. Gorbatschow hat die Welt verändert - und zwar ohne Bombenkrieg und Bodentruppen.

Dieter Stephan

Bensheim