Bildung Der richtige Weg: Mehr Wege zur Hochschule

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"Wird das Gymnasium zur Gesamtschule der Nation?", BA vom Donnerstag, 11. Dezember

Offenbar war sich die Runde im Pressehaus darin einig, dass zu viele Schülerinnen und Schüler auf das Gymnasium drängen und deswegen Handwerk und Gewerbe leer ausgehen. Eine Zwischenüberschrift suggeriert sogar, dass Abiturienten chancenlos seien.

Zu viele Abiturienten also? Die Lebenswirklichkeit sieht anders aus. Die Einkommensaussichten und Gestaltungsräume sind in unserer Gesellschaft mit Abitur im Mittel (natürlich nicht immer!) besser. Ich meine, Kinder und Jugendliche sollten mehr Chancen im Leben und im Beruf durch Bildung eingeräumt bekommen, anstatt sie von Gymnasien fernhalten zu wollen. Wir als Gesellschaft brauchen mehr Chancengleichheit, und unsere gesamte Volkswirtschaft braucht sie auch. Wir werden teuer zu bezahlen haben, wenn wir wegen alter Zöpfe bei der Bildung im internationalen Wettbewerb abfallen.

Bemerkenswert ist, dass man sich zum Fachgespräch nahezu zeitgleich mit der Veröffentlichung des "Chancen-Spiegels 2014" der Bertelsmann Stiftung traf. Um es vorweg zu sagen: Weder Hessen noch der Kreis Bergstraße schneiden in dieser Untersuchung zu den Bildungschancen besonders schlecht ab - besonders gut auch nicht, eher Mittelmaß. Die "Integrationskraft" hinsichtlich förderbedürftiger Kinder ist das einzige von vier Kriterien - neben der Kompetenzförderung, der Durchlässigkeit und der Zertifikatsvergabe (Abschlussrate), in dem Hessen glänzt. Wichtig genug, aber reicht das?

Im Landkreis Bergstraße wird das Gymnasium zwar stark nachgefragt. Für sonstige Schularten mit Hochschulreifeoption gilt dies deutlich weniger. Es gibt allerdings - so zeigt die Studie - auch zu wenige Schulen, die eine Hochschulreife ermöglichen. Dies wird deutlich im Verhältnis von Schulen mit Hochschulreifeoption zu Schulen ohne diese Option. Im Landkreis Bergstraße liegt der Wert bei 0,6, in zwei Landkreisen mit 0,3 am niedrigsten, in Groß-Gerau bei 1,4, in Rüdesheim bei 1,2 und in Darmstadt-Stadt 2,3 (je mehr mit Option und je weniger ohne, umso höher der Wert). Wer bei uns nicht den Schritt ins Gymnasium wagt, hat schlechte Chancen auf Alternativen. Der Bericht zeigt weitere interessante Stellen auf, an denen nachgelegt werden müsste.

Vor kurzem konstatierte die internationale OECD erneut, dass in Deutschland die Bildungsmobilität nach oben weniger häufig anzutreffen ist als die Bildungsmobilität nach unten. Angesichts des hohen Bedarfs an qualifizierten Beschäftigten in der Wirtschaft kann es daher nur richtig sein, mehr Potenziale der jungen Menschen zu aktivieren und ihnen vielfältige Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen. Nicht um sie alle zum Abitur zu bringen, sondern damit sie nicht unter ihren Möglichkeiten bleiben müssen. Das Bildungssystem muss sich ändern, damit die entstandenen Ungleichgewichte verringert werden können.

Wolfgang Johannsen

Bensheim

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