Flucht, Leid und Überfluss - Was man auf einer Kreuzfahrt in der Ägäis beim Lesen empfindet Luxusliner und "Elendsschaluppen"

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Obwohl ich den günstigsten Reisetarif auf dem schwimmenden Koloss gewählt habe, war ich 12 Tage total in den Rhythmus unserer Wohlstandsgesellschaft eingebunden. Unter meinem mitgebrachten Lesematerial bin ich an einem Artikel des ehemaligen Arbeitsministers Norbert Blüm hängen geblieben. Blüm schreibt über eine Nacht als Camper unter den Geflüchteten in Idomeni. Über ein nächtliches Konzert von Husten, Räuspern und Kinderweinen. Über den Vater, der es schwer hat, mit einer Hand die Rotznasen seiner Kleinen zu waschen, weil ihm die Barbaren des IS die andere Hand, mit der er Schriftstücke für Ungläubige angefertigt hat, abgehauen haben.

Blüm schreibt auch vom neuen Ostblock mit Orban, dem Türschließer, den sein CDU-Kollege Heiner Geissler in einer Talkrunde einmal als Rassist bezeichnet hat. Und über die Polen, deren sehnlichster Wunsch es war, den Eisernen Vorhang zu durchbrechen, die europäische Subventionen absahnen und Menschen aussperren, die - wie einst sie selbst - dem Unrecht und der Lebensgefahr entrinnen wollen.

Die Grafiken neben Blüms Artikel über die Fluchtrouten weisen starke Ähnlichkeiten mit der Grafik unserer Reiseroute durch die Ägäis auf. Ihr Vergleich bildet eine Metapher aus einem völlig anderen Kontext ab, aus einer Kunstausstellung vor ein paar Jahren im Folkwang-Museum Essen und der Kunsthalle Hamburg: "Parallele Gegensätze - Feuerbachs Musen und Lagerfelds Models."

Ich befinde mich auf der Gegenseite der Gestrauchelten in Idomeni. Wo Blüm die Kinder beobachtet, die neben dem Berechtigungsschein für Nahrung um eine Zugabe betteln, sehe ich Nahrung in Hülle und Fülle. Es gibt nicht nur die festen Essenszeiten auf Deck 5, es gibt auf Deck 14 des schwimmenden Wolkenkratzers Angebote ohne Pause - und die gutgenährten Europäer füllen ihre Teller bis zum Rand. Den Rest räumen die unterbezahlten Philippinos, Inder und Afrikaner weg.

An einem Tag ohne Landgang und Exkursion zu historischen Städten, will ich mich auf das Sonnendeck begeben, um zu lesen und ein bisschen zu schreiben. Ich bleibe im Aquapark hängen bei "Come and enjoy Bavaria Party Atmosphere". Die Musik ist laut, die Bühnenrequisiten wie beim Oktoberfest mit Trachtenmotiven und blauweißen Rauten. Ein Animateur aktiviert die Gäste und lädt sie zu Geschicklichkeitsspielen ein. Als ich dann an der Seite der Entertainmentbühne einen Stand mit Bratwürsten und Sauerkraut entdecke, wo auch Bier gezapft wird, liefert diese Beobachtung ein weiteres Indiz für das große Freizeitangebot wie Theater mit Bühnenshow, Wellness, Tanzkurse, Sport im Fitnessraum und vieles mehr.

Der Endpunkt unserer Reise war Israels Hafenstadt Haifa. Dort lässt sich ein anderes Phänomen von parallelem Gegensatz festmachen - mit explosiven gesellschaftlichen Verwerfungen: Die Lebenswirklichkeit der Israelis und der unterprivilegierten Palästinenser. Haifa ist eine lebendige, wohlhabende Stadt mit den wunderschönen Bahai-Gärten. Nicht weit entfernt liegt der Hafen Akko, ein historisches Juwel, in dessen Altstadt meist Araber leben.

Auf der letzten Station habe ich in Demut den Pantheon-Tempel bestaunt, der oben auf der Akropolis thront. Es bildeten sich dabei absurde Fantasien zwischen negativ destruktivem Aktionismus und positiv sinnstiftendem Engagement. Weltweit arbeiten Archäologen daran, historische Schätze als Weltkulturerbe zu erhalten, die Barbaren des IS hauen - durch ihre unheilbare Geisteskrankheit verblendet - in einer atavistischen Orgie alles kurz und klein, wie etwa in Palmyra.

Während der Tage kam über die Medien die Nachricht vom Tod der irakisch-englischen Stararchitektin Zaha Hadid. Von ihr kenne ich das Feuerwehrgebäude im Vitra Design Museum in Weil am Rhein, das Phaeno Museum in Wolfsburg und das Kunstmuseum der Moderne in Rom. Kürzlich wurde auch in Südtirol das Alpenmuseum fertiggestellt, das sie für Messner entworfen hat.

Anton Strobel, Brühl

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