Gesellschaftsordnung - Föderative Systeme stärken Demokratie, Frieden und Klimaschutz / Dazu ist aber auch Vertrauen notwendig Vertrauen in Freunde und Partner

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Milliarden Menschen leben in Unfreiheit und Rechtlosigkeit. Der 30. Gedenktag an das Massaker vom Tiananmen-Platz in der chinesischen Hauptstadt Peking erinnert uns wieder daran. Gleichzeitig werden in China ganze Völker unterdrückt, zum Beispiel die Uiguren und die Tibeter. Nicht viel anders fühlen sich die Kurden und die Palästinenser an der Grenze zu Europa. Dass sich die EU unter dem Druck von Rechtspopulisten aufzulösen droht, erschwert die Erhaltung einer noch einigermaßen friedlichen Welt. Doch der Brexit ist schon weit fortgeschritten, in Frankreich kündigte eine Großpartei jetzt den „Frexit“ an, und vor einigen Monaten waberte sogar ein „Dexit“ durch die deutschen Zeitungen.

Woher kommen diese Bestrebungen? Dass Diktaturen ihre Einheit mit harter Faust aufrechterhalten, das ist so alt wie die Menschheit. Dass aber Demokratien den Wert eines in Freiheit geschlossenen, demokratisch regierten Bündnisses nicht erkennen können, das bleibt mir ein Rätsel.

Menschen sind nicht zum Alleinsein geschaffen. Sie werden aus und in Gemeinschaften geboren und bleiben bis zu ihrem Tod aufeinander angewiesen. Glücklich werden sie in ihrem Zusammenleben aber nur, wenn sie dem Dasein einen erfreulichen Rahmen geben, die selbst gegebenen Regeln achten und sich auch an die dazugehörigen Grundsätze halten.

Fragt man Mitbürger, was ihnen als Erstes in den Sinn kommt, wenn sie über gute interne Beziehungen nachdenken, nennen viele „Ehrlichkeit und Vertrauen“. Ältere, etwa jenseits der 70, kennen auch noch wenigstens die erste Zeile des Gedichts „Vor allem eins, mein Kind: Sei treu und wahr“. Aufrichtigkeit gehört zu den am höchsten einzuschätzenden Tugenden einer Gesellschaft. Bedauerlicherweise ist sie derzeit mit dem Rechtspopulismus Trumps und seiner europäischen Jünger nicht mehr selbstverständlich.

Doch wer Ehrlichkeit anstrebt und die Gesellschaft zu ihr zurückführen will, muss nicht verzweifeln. Er braucht aber Geduld und darf nie nachlassen, sich als gutes Beispiel um die Wahrheit seiner Worte und die Verlässlichkeit seines Tuns zu bemühen. Sein Lohn ist das Bewusstsein, ethisch korrekt und mit sich selbst in Einklang zu leben – authentisch. Findet er Mitstreiter, entwickelt sich in seiner Umgebung eine zunehmende Übereinstimmung, die allen zu ihm Gehörenden ein das Leben erleichterndes Gefühl der Sicherheit schenkt.

Wenn die Wertschätzung von Treue und Wahrheit in der Gefahr ist, an Boden zu verlieren, ist Vorsicht geboten. Dann sollten ihre Verfechter mit ihrem Vertrauen in andere sparsam umgehen und es niemandem unbesehen gewähren. Dafür spricht, dass ein rares Gut kostbarer und höher geschätzt wird als ein häufig vorkommendes.

Außerdem sind wir Deutsche gebrannte Kinder. Die Suche nach Menschen, denen wir Treue und Vertrauen schenken können, prägt unseren Nationalcharakter – wenn es ihn gibt – stärker als bei anderen Völkern. Dass unsere Großeltern sich und ihr Schicksal an Hitler leichtfertig überantwortet haben, bezahlten sie und die ganze Welt mit 60 Millionen Toten. Trotz all seiner Verbrechen sind sie ihm treu geblieben, haben ihm verlässlich gedient und bis zur letzten Patrone für ihn gekämpft! „Unsere Ehre heißt Treue“, rühmte sich die SS mit einem allen bekannten Spruch. Bei all ihren Gräueltaten in den KZs, in Oradour und Lidice, war sie stolz darauf, die verbrecherischen Befehle des „Führers“ gehorsam ausgeführt zu haben.

Treue und Vertrauen können also missbraucht werden – wie alle Tugenden. Das gilt für die klassischen, etwa Gerechtigkeit, und die geistlichen, wie den Glauben. Das nimmt ihnen weder Wert noch Würde, sollte aber als Aufruf gelten, die Anforderungen zu erhöhen: An den, der sie bekommt, ebenso an den, der sie schenkt, und an die Bedingungen, unter denen sie gewährt werden. Um jeglichen Missbrauch zu verhindern, braucht es eindeutig formulierte Gesetze, mit der Kontrolle beauftragte Gerichte und, in der internationalen Welt, sogar die Vereinten Nationen.

Der Empfangende muss des Vertrauens würdig sein, immer und überall: am Beginn des Lebens gilt es fraglos für die Eltern, denen die Grundrechte der deutschen Verfassung „zuvörderst“ die Erziehung übertragen und dem Staat nur die Aufsicht vorbehalten.

In seinem Rahmen wird das Vertrauen in den Parlamenten nur auf Zeit gewährt oder eng begrenzt und an Qualifikationen gebunden, bei der Polizei etwa.

Spiegelbildlich gilt dasselbe für den, der das Vertrauen entgegenbringt. Ein Neugeborenes gewährt sein Vertrauen blind. Wächst es heran, wird ihm zunehmend mehr Autonomie zugebilligt, bis es mit der Volljährigkeit frei entscheiden kann, wem es vertraut – auch den Politikern, die es in Ämter wählt.

Dieses Vertrauen ist ein gegenseitig gültiges Kernelement der Demokratie: Innerhalb der Staaten und zwischen ihnen. Der Bürger überträgt den Abgeordneten die Vollmacht, in seinem Namen zu handeln, Gesetze zu geben und die Regierung zu wählen, zum Beispiel „Bündnisse – foedera“ einzugehen. Mit dieser zweistufigen Delegation erreicht die Europäische Union die zurzeit höchste Stufe der Demokratie: Damit fordert sie das größte Vertrauen und verspricht auch den höchsten Lohn.

Die Regierungen der EU-Staaten geben ganze Politikfelder, so die Landwirtschaft, an die Union ab. Kaum ein Bürger spürt dabei einen Verlust. Andererseits verschafft die Union den Mitgliedern deutliche Vorteile. Ihr Bund lässt sich mit einer halben Milliarde Bürger in der weltweiten Konkurrenz weniger leicht übersehen und übergehen als ein Nationalstaat. Die Union kann vorteilhaftere Deals erreichen und wird sich auch im Kampf um den Klimaschutz leichter Gehör verschaffen.

Ein föderatives System zwischen dem Irak, dem Iran, der Türkei und Syrien, den Kurdenländern also, wäre auf jeden Fall besser geeignet, eine Balance zwischen Einheit und Vielfalt aufrechtzuerhalten. Doch bevor diese vier Länder richtige Demokratien geworden sind, wird das kaum gelingen.

Andererseits ist Israel, die im Streit mit den Palästinensern stärkere Macht, zwar eine Demokratie, es gibt aber bisher kein Anzeichen für seine Fähigkeit und seinen Willen, mit den Palästinensern ein föderatives Gebilde zu errichten.

Mit großem Bedauern sei ab-schließend festgestellt, dass die Lösung der angesprochenen Konflikte das Vertrauen der Beteiligten zueinander voraussetzt. Solange es fehlt, wird es schwerfallen, Frieden zu schaffen. Der Friede wiederum ist die Voraussetzung für ein Klimaschutzbündnis. Streben wir es an! Es ist der Mühe wert.

Helmut Mehrer, Brühl