Veränderungssperre - Stadträte hätten der Verwaltung nicht folgen sollen / Eckgebäude sollten immer besondere Akzente setzen Hat das Quartier einen Charakter?

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Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten, und so wäre es unsinnig, den Oberbürgermeister dafür zu kritisieren, dass ihm die phantasielose 1980er-Jahre-Architektur des neuen Welde-Stammhauses besser gefällt als der abgelehnte Entwurf für die Eckbebauung Werder-/Mannheimer Straße, obwohl dieser den Geschmacksvorstellungen des 21. Jahrhunderts eher entspricht und den Vergleich mit den Bauten im Mannheimer Glücksteinquartier nicht zu scheuen bräuchte. Aber das wäre ja wieder Geschmack des Mainstreams, über den zu streiten bekanntlich . . .

Geradezu hanebüchen ist die Aussage von Bauamt, Oberbürgermeister und Stadtbaudirektor, der geplante Neubau würde die Kreuzung dominieren. Ich weiß nicht, ob die Damen und Herren jemals persönlich an der besagten Kreuzung waren und sich umgesehen haben, aber da dominieren ganz andere Bauten, etwa der schräg gegenüberliegende hässliche 1960er-Jahre-Bau, in dem die Filiale der Metzgerei Back ist (viel höher) samt benachbarter Bebauung in Richtung Stadtmitte und die furchtbare Bausünde des ehemaligen Edeka-Marktes auf der anderen Ecke der Werderstraße (viel ausladender) samt der unsinnigen Parkplatzfläche auf dem Eckgrundstück der Werderstraße 2. Schon deswegen wäre anstelle des „Lügnerhauses“ ein entsprechend dimensionierter Neubau sinnvoll. Hanebüchen ist der nun vom Stadtrat nachgeplapperte Vorwurf auch, weil jeder Architekturstudent im ersten Semester lernt, dass in geschlossenen Bebauungen die Eckgebäude größer oder zumindest prächtiger sein sollten, als angrenzende Häuserzeilen. Eine Dominanz ist architektonisch üblich, ja gewollt. In Schwetzingen liegen solche größeren und prächtigeren Eckgebäude an fast jeder Straßenecke der Innenstadt vor, etwa der ehemalige Silberne Anker, Gaststätte Eintracht, Photo Gerkewitz, Gasthaus Storchen, das frühere Hutgeschäft Schütz gegenüber der Eisenecke, überhaupt die Eckbauten der früheren Dragonerkaserne oder die Enden der bald verschwindenden Gebäudereihe in der Rathenau-Straße, um nur einige willkürlich ausgewählte Beispiele zu nennen.

Hanebüchen auch, weil auf den Charakter des Quartiers XXIV verwiesen wird, dessen Eckbauten Werder-/Friedrich-Ebert-Straße (das Spielwarengeschäft Schuhmacher – heute Solarium – wurde erst in den 1970ern aufgestockt) und das frühere Gardinengeschäft Dünkel seit über einem halben Jahrhundert eben ihre jeweiligen Häuserreihen dominieren – und deutlich höher sind als ihre jeweiligen Nachbargebäude, insbesondere am Ende der ungeraden Werderstraßenseite.

Und bitte schön, was soll denn dieser beschworene Charakter des Quartiers XXIV sein? Das gehört, wie einst die Ostseite der Mühlenstraße, fast komplett weg. Das augenscheinlich einzige von Wert ist der ungewöhnlich hohe Anteil von Grünfläche im Inneren des Quadrats. Wenn also etwas bewahrt werden müsste, dann der nur nach innen vorhandene Charakter einer Gartenstadt. Nach außen liegen, mit Ausnahme einiger Hofeinfahrten, geschlossene Häuserzeilen vor. Die Liste der denkmalgeschützten Bauwerke ist in Baden-Württemberg bekanntlich als einzigem Bundesland ein Staatsgeheimnis. Offiziell aus Gründen des Datenschutzes, doch hinter vorgehaltener Hand räumt das Landesdenkmalamt ein, dass die Liste derart fehlerbehaftet ist, dass man sie nicht veröffentlichen kann.

Die Öffentlichkeit kann also nicht nachprüfen, ob im Quartier XXIV denkmalgeschützte Bauten verzeichnet sind, aber wer ein bisschen Ahnung von Architektur hat, kommt schnell zu dem Schluss: praktisch alle Häuser sind in der Nachkriegszeit erbaut worden oder sie wurden umgebaut, aufgestockt, erhielten moderne Hoftore und Dächer, neue Fenster und Fassaden. Ein Sammelsurium unterschiedlicher Ausführungen, weil in den 1960ern etwas anderes State of the Art war, als in den 2000ern. Da ist also nichts in der Werderstraße, gar nichts, was irgendeinen architektonischen oder historischen Wert hat. Kein Grund für die Posse ums „Lügnerhaus“.

Es war unklug von den Stadträten, sich vom Rathaus in den Beschluss zur Veränderungssperre treiben zu lassen. Auch weil in Schwetzingen keine signifikanten Neubaugebiete mehr möglich sind. Die Konversion der Kasernen kommt nicht richtig in Gang, und beim Pfaudler-Gelände ist fraglich, wer den sicherlich mehrere Millionen Euro teuren Abriss der fast 200 Meter langen Produktionshalle samt des rund zwei Dutzend Meter in die Tiefe ragenden Brennofens und der Bunkeranlagen bezahlen soll. Von möglichen Altlasten will ich gar nicht erst ausgehen. Hier werden vor 2025 sicher keine Menschen wohnen. Wenn der ganze Komplex nicht von Amts wegen sowieso als Stätte der Zwangsarbeit und der Produktion von Industrietanks mit einst weltweiter Bedeutung und besonderer Technologie als Industriedenkmal unter Schutz zu stellen ist. Ein weiteres Wachstum der Bevölkerung kann also nur durch Verdichtung erfolgen, auch im Quartier XXIV.

Ohne Gesichtsverlust kommen die Stadträte aus der Nummer aber nicht mehr heraus. Ich frage mich auch, warum die Angelegenheit so dringend war, dass der Beschluss völlig überstürzt verabschiedet werden musste, und ich habe das Gefühl, dass hinter der Posse noch etwas verborgen liegt, was der Öffentlichkeit noch nicht bekannt ist. Es müffelt zwar schon ein bisschen aus Richtung Dänemark, aber der Aha-Effekt will sich noch nicht einstellen. Der Streit des Investors mit dem Besitzer eines der Nachbarhäuser kann ja wohl nicht der Grund sein, warum man – bildlich gesprochen – eine nukleare Reaktion für das ganze Quadrat gewählt hat.

Matthias Becker, Schwetzingen

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kaba
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