Bundesverfassungsgericht Assistierter Suizid: „Vorhang zu – und alle Fragen offen“?

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Das Verbot der „geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ verstoße gegen das Grundgesetz, hat das Bundesverfassungsgericht (BVG) am 26. Februar entschieden. Die nun offenen Tore für Sterbehilfevereine – und das sehen wir im Einklang mit der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, der Deutschen Hospizstiftung und dem Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats – eröffnen gefährliche Räume.

Denn was so eindeutig klingt, lässt Fragen offen. Das beginnt schon bei den widersprüchlichen Empfindungen, einerseits Erleichterung über die Bestätigung der Selbstbestimmung am Lebensende, andererseits die verstörende Vorstellung, dass Menschen keinen anderen Ausweg als die Selbsttötung sehen, das heißt aus Angst vor dem Sterben sich selbst zu töten.

Ärzte und Ehrenamtliche in der Hospiz- und Palliativbewegung respektieren einen vorgetragenen Sterbewunsch, versuchen verantwortungsvoll Hintergründe und Ursachen zu ergründen, statt eine schnelle und vordergründige Lösung (Suizidassistenz) anzubieten. Viele Patienten, die fordern: „Doktor, geben Sie mir die Spritze!“, hoffen insgeheim auf einen anderen Ausweg aus der für sie unerträglichen Leidenssituation. Aus gutem Grund bekräftigte auch der Weltärztebund sein Nein zum ärztlich assistierten Suizid (Tifliser Erklärung 2019).

Grausame Schmerzen ersparen

Fragen: „Wie wir mit dem Sterbewunsch eines Menschen umgehen, sagt sehr viel über uns als Gesellschaft. Den Sterbewunsch eines Schwerkranken zu respektieren, auszuhalten und offen darüber zu sprechen, verlangt eine tabufreie Annäherung. Die Äußerung eines Sterbewunsches als „konkrete Handlungsaufforderung“, wie es das Geschäftsmodell der Sterbehilfevereine versteht, „ist viel zu kurz gegriffen“ (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin).

Was macht es mit einer Gesellschaft, in der die Selbsttötung zu einem Geschäftsmodell werden kann? Wie frei und selbstbestimmt ist eine Entscheidung in dieser Grenzsituation, in der eine bestimmte „Lösung“ aus Geschäftsinteresse oder als gesellschaftliche Notwendigkeit (Gesundheitskosten) angeboten wird? Was bedeutet die gesellschaftliche Akzeptanz des Suizidwunsches für Schwerkranke und was der Vollzug für ihre Angehörigen, für die Ärzte und für das gesellschaftliche Klima?

Hier sei nur eines herausgegriffen: Die Urteilsbegründung des BVG und auch der Kommentar im BA vom 27. Februar nennen grausame Schmerzen, denen der Suizid zuvorkommen soll. Wer könnte das nicht verstehen?

Nur: Es zeigt einmal mehr, wie wenig die Möglichkeiten moderner Palliativversorgung bekannt sind und genutzt werden. Unsere 25-jährige Erfahrung mit schwerstkranken und sterbenden Menschen belegt ebenso wie wissenschaftliche Untersuchungen, dass hospizlich-palliative Begleitung – ambulant oder stationär – ein selbstbestimmtes Leben bis zum natürlichen Lebensende für fast alle Menschen ermöglichen kann.

In den wenigen Fällen, in denen diese Maßnahmen nicht ausreichen, ist eine terminale Sedierung möglich. Der Wunsch, nicht mehr leben zu wollen, ist häufig der Wunsch so nicht mehr leben zu wollen. Geradezu erschreckend ist, dass eine unzureichende Schmerztherapie als Rechtfertigung für das Urteil herhalten muss.

Selbstverständlich gehört die Bekämpfung schwerer Schmerzen und Leiden zum „menschenwürdigen Existenzminimum“ (K. Kutzer Richter a.D. BGH). Dass die hierzulande in hoher Qualität vorhandenen schmerztherapeutischen und palliativmedizinischen Mittel und Verfahren nicht immer genutzt werden, ist höchst bedauerlich; dieses Versäumnis jedoch als eine wesentliche Begründung für die Erlaubnis zur geschäftsmäßigen Suizidassistenz zu instrumentalisieren, ist fatal und führt in die Irre.

Möglichkeiten bekannter machen

Bezeichnend dafür Professor Boer, einst Wegbereiter der Sterbehilfe in den Niederlanden: „Hätten wir in den 1980er Jahren das hohe Niveau der Palliativmedizin gehabt, wären wir diesen Weg niemals gegangen“.

Eine zwingende Folgerung aus dem Urteil ist daher: Die Öffentlichkeit vermehrt aufzuklären, die Palliativversorgung bekannt(er) zu machen und in den Einrichtungen des Gesundheitswesens verlässlich zu etablieren. Viele Kranke und ihre Angehörigen wissen nicht, welche Möglichkeiten sie haben, Behandlungsmaßnahmen – auch eine künstliche Beatmung – abzubrechen und auf lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten. Sterben als Teil des Lebens zulassen!

Es braucht mehr Informationen über die heute schon bestehenden Möglichkeiten „und keine offene Tür für geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid“.

Im Kreis Bergstraße ist die Hospiz- und Palliativversorgung gottlob qualitativ und quantitativ gut vertreten, ihre Angebote könnten aber auch hier noch stärker angefragt und genutzt werden. Wir hoffen, dass eine breite Diskussion in unserer Gesellschaft über Rahmenbedingungen am Lebensende geführt wird in Krankenhäusern, Pflegeheimen und für die Menschen, die zu Hause gepflegt werden. Es wäre gewiss ein Segen für Viele, wenn das BVG-Urteil diesen ungeplanten Begleiteffekt hätte.

Albert Mühlum

Wolfgang Nieswandt

Bensheim