Zu große Schuhe für Angela Merkel

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Zum Artikel "Ein ,Adieu Helmut' mit etwas Wehmut und viel Dankbarkeit" vom 3. Juli:

In der Rede von Frau Merkel beim europäischen Trauerakt zu Ehren von Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl am 1. Juli in Straßburg fällt die Passage zur "Osterweiterung von EU und Nato" auf: "Am Ende seiner (Kohls) Amtszeit war Deutschland vereint und zum ersten Mal in seiner Geschichte mit allen seinen Nachbarstaaten in Frieden, Freiheit und Freundschaft verbunden. Der Weg zur Erweiterung der Europäischen Union und der Nato nach Mittel- und Osteuropa war bereits weitgehend geebnet".

Man fragt sich, hat die Nato- und EU-Osterweiterung einen solchen Stellenwert in Kohls Lebenswerk, um so hervorgehoben zu werden? Sollte Kohl wirklich so vermessen gewesen sein, aufgrund seiner Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg, die ihn tief geprägt haben, "seiner" EU einen Eroberungsvirus in Richtung Osten eingepflanzt zu haben? Wohl kaum, denn gerade die deutsche Wiedervereinigung bedurfte des besonderen Vertrauens aufseiten der Sowjetunion/Russlands in die deutsche Friedfertigkeit. Gorbatschow hat dieses Vertrauen bei Kohl gefunden und so der Wiedervereinigung zugestimmt.

Hand zur Versöhnung gereicht

Gorbatschow hätte mit gutem Recht die Wiedervereinigung verweigern können, nach dem unsäglichen Leid und den Verwüstungen, das die Deutschen im Zweiten Weltkrieg den Russen zugefügt haben. Somit ist es geradezu als ein kleines Wunder anzusehen, dass Russland trotz der tiefen Gräben des Leides Deutschland die Hand zum Frieden und zur Versöhnung gereicht hat. Man kann sicher sein, dass Kohl dieses gewonnene Vertrauen und die damit verbundene Zustimmung Russlands zur Wiedervereinigung nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt hätte.

Die Nato- und EU-Osterweiterung ist ureigenstes US-amerikanisches Interesse. Zbigniew Brzezinski, erst kürzlich verstorben, Sicherheitsberater verschiedener US-Präsidenten, hat in seinem Buch mit dem Titel "Die einzige Weltmacht" den Weg der USA zur globalen Vorherrschaft beschrieben. Die einfache These Brzezinskis lautet, wer das Herzland des eurasischen Kontinents beherrscht, also das heutige Russland, der wird auch die Vorherrschaft in unserer Welt besitzen. Leider ist der Brzezinski-Plan kein intellektuelles Sandkastenspiel, sondern bittere Wirklichkeit, denn die USA verfolgen dieses Ziel seit mindestens sieben Jahrzehnten mit größter Beharrlichkeit. Somit ist Russland der "ewige" Gegner der USA.

US-amerikanische Politik

Jede Nato- und EU-Osterweiterung, Stichwort Ukraine, entsprechen dem Brzezinski-Plan und damit den unmittelbaren Interessen der USA. Bei der Ukraine ist die Nato- und EU-Osterweiterung zu einem brisanten weltpolitischen Problem geworden, da es sehr massiv in die Sicherheitsinteressen Russlands eingreift.

Die Ukraine-Krise fällt voll und ganz in die Regierungszeit und damit in die Verantwortung von Angela Merkel. Offensichtlich möchte Merkel sich dieser ihrer Verantwortung entziehen, indem sie, durch den wie beiläufig in ihre Trauerrede eingefügten Satz zur Nato- und EU-Osterweiterung, diese Helmut Kohl zuschiebt. Leider hat sie mit ihrer Haltung in der Ukraine-Krise, dem strikten Befolgen US-amerikanischer Politik, der Einheit Europas entgegengewirkt. Europa ist seitdem gespalten in Russland und EU-Europa.

Deutschland steht 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Russland wieder in Gestalt der "Nato-Speerspitze" als Feind gegenüber. Vor dem Brexit-Referendum hat Frau Merkel Herrn Cameron sogar zugebilligt, dass, wenn Großbritannien in der EU verbliebe, es nicht mehr die Einheit der EU fördern müsse. Hätte das Helmut Kohl gewollt? Die Schuhe des politischen Vermächtnisses von Helmut Kohl in Bezug auf Europa scheinen doch ein wenig zu groß für Frau Merkel zu sein.

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