Tochter eines Covid-Patienten erinnert sich

Hab keine Angst, Papa

Von 
Miray Caliskan
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Wegen der ungebremst steigenden Infektionen hat Baden-Württemberg die Reißleine gezogen und geht nach Weihnachten bis mindestens 10. Januar in den Lockdown. Bild: Nietfeld/dpa © Symbolbild: Kay Nietfeld/dpa

Berlin/Mannheim. Die Autorin dieses sehr persönlichen Textes zog im September von Mannheim nach Berlin. Im November kam ihr Vater in Ludwigshafen auf die Intensivstation – mit schwerem Covid-19-Verlauf. Seitdem führt sie Tagebuch. In der Nacht zu Freitag starb ihr Vater.



  • Die Autorin Miray Caliskan ist in Mannheim aufgewachsen. Ihre Familie lebt noch heute in der Stadt.
  • Miray Caliskan absolvierte nach dem Studium ein Volontariat – also die Ausbildung zur Redakteurin – beim „Mannheimer Morgen“. Danach arbeitete sie einige Zeit als Redakteurin mit den Schwerpunkten Wirtschaft und Politik in dieser Redaktion.
  • Im Sommer dieses Jahres zog es Miray Caliskan nach Berlin, wo sie als Wissenschaftsjournalisten bei der Berliner Zeitung arbeitet. Dort wurde auch dieser Text zum ersten Mal unter www.berliner-zeitung.de/gesundheit-oekologie veröffentlicht. red

Die Stimme meines Vaters hörte ich zuletzt am 5. November um 13.43 Uhr. Es war ein ziemlich kurzes Telefongespräch. Ich sagte ihm, dass er den Ärzten vertrauen soll: „Sie werden dir helfen, damit du wieder atmen kannst, Papa. Korkma.“ Das ist türkisch und heißt: Hab keine Angst. Er sagte nur: „Tamam.“ - Okay. Er hatte keine Kraft mehr.

Mein Vater wurde kurz nach diesem Telefonat im Städtischen Klinikum Ludwigshafen unter leichter Narkose intubiert. Ab diesem Moment musste eine Maschine für ihn atmen. Weil das Coronavirus seine Lunge so stark befallen hatte, dass er fast erstickt wäre - oder ertrunken, wie es Mediziner beschreiben. Wie ernst sein Zustand war - noch heute ist -, erfuhren wir am nächsten Morgen: Mein Handy zeigte vier verpasste Anrufe von meiner Schwester an. Ich rief sie zurück. Seitdem ist nichts mehr, wie es war.

Vor sieben Wochen infizierte sich meine gesamte Familie mit Covid-19. Mein Schwager hat sich bei einem Kollegen angesteckt, meine Schwester zog mit meiner zweijährigen Nichte zu meinen Eltern - in der Hoffnung, einer Übertragung zu entkommen. Es war leider zu spät. Die beiden infizierten meine Mutter. Nur mein Vater hatte angeblich Glück: Sein Test fiel negativ aus. Zu Hause hat er sich isoliert, so gut es ging. Alle trugen durchgehend Maske, rissen die Fenster weit auf. Was blieb ihnen anderes übrig?

Am anderen Ende der Leitung hörte ich nun meine Schwester schluchzen: „Papa geht es schlecht, Miray.“ Pause. Sie holte tief Luft. „Der Arzt hat gesagt, dass er ins künstliche Koma versetzt werden muss.“ Pause. Luft. „Wir sollen uns auf das Schlimmste gefasst machen.“ Ich glaubte ihr nicht. Ich hatte doch tags zuvor noch mit ihm telefoniert. Ich hörte mich immer wieder sagen: „Ich verstehe das nicht.“ Wie schlagartig sich das Leben ändern kann.

Ich buchte den nächsten Zug nach Mannheim und kam Stunden später in meiner Heimatstadt an. Die Familie hatte sich zu Hause versammelt. Die Augen rot. Niemand verstand, was passierte. Und ich verstehe es bis heute nicht.

Während die Vier ihre Infektion fast symptomlos in Quarantäne ausgesessen hatten, hatte mein Vater eine Woche nach seinem negativen Testergebnis plötzlich Magen-Darm-Probleme. Dann fiel es ihm immer schwerer zu atmen. Er war beim Hausarzt, bekam Antibiotika und etwas gegen Asthmabeschwerden. Als es ihm immer schlechter ging, bis er nicht mal mehr im Sitzen Luft bekam, brachte ihn meine Schwester in die Notaufnahme der Uniklinik, der Hauptanlaufstelle für Corona-Patienten in Mannheim. Untersucht wurde er von einem Arzt vom Bereitschaftsdienst. Etwa drei Minuten lang. Dieser hat seine Lunge abgehört, Fieber gemessen (knapp 40 Grad), ihm Hustentropfen und fiebersenkende Tabletten verschrieben und ihn mit der Empfehlung, einen weiteren Corona-Test zu machen, nach Hause geschickt. Mein Vater wurde nicht aufgenommen.

Am nächsten Tag ist er zum Testzentrum gefahren; das positive Ergebnis kam wenige Stunden später. Sein Zustand besserte sich in den darauffolgenden Tagen durch die Medikamente kein bisschen. Ich glaube, der Fehler meines Vaters war, dass er nicht darauf bestand, besser untersucht zu werden. Vielleicht hat er sich auch selbst eingeredet, dass es ihm nicht so schlecht gehen kann - weil ihm das von den Ärzten, denen er vertraute, so vermittelt wurde.

Wenige Tage später haben meine Schwester und mein Bruder meinen Vater in die Notaufnahme des Klinikums Ludwigshafen gefahren. Weil sie sicher waren, dass die Mannheimer Klinik ihn ein zweites Mal nach Hause schicken würde. In Ludwigshafen wurde ihm zum ersten Mal Blut abgenommen, seine Lunge mittels Computertomographie untersucht. Dann ging es Schlag auf Schlag.

Ich führe seit diesem Tag, dem 6. November, als unser Leben auf den Kopf gestellt wurde, ein Medizin-Tagebuch für meinen Vater. Damit ich ihm, wenn er wieder aufwacht, zeigen kann, gegen was er da gekämpft hat. Er selbst wird sich hoffentlich an nichts erinnern. Ich dagegen werde es mein Leben lang tun.

Ein Auszug

Freitag, 6. November: Papa wird ins künstliche Koma versetzt und weiterhin invasiv beatmet. Ein Respirator presst mit Überdruck Luft in seine Lunge. Das soll den Kollaps der Lungenflügel verhindern. Er bekommt jetzt zehn Tage lang Dexamethason. Dieses Kortison unterdrücke das Immunsystem, um entzündliche Prozesse zu stoppen und könne die Sterblichkeitsrate senken. Sie wollen ihn immer wieder umdrehen - mindestens 16 Stunden am Tag soll er auf dem Bauch liegen. In dieser Position werde die Lunge besser durchblutet.

Samstag, 7. November: Ärztin sagt, Papa sei einer der kritischsten Patienten auf der Intensivstation. Sie überlegen, ihn an Ecmo anzuschließen. Diese Maschine saugt pro Minute literweise Blut aus seinem Körper, reichert es mit Sauerstoff an, befreit es von Kohlendioxid und pumpt es wieder zurück. Eine externe künstliche Lunge. Das CO2 staut sich an, weil Papa es nicht schafft, es selbst abzuatmen. Ärztin sagt, der Einsatz der Maschine berge schwere Risiken - unter anderem Schlaganfall. Deshalb wollen sie zunächst lieber eine Dialyse anbringen, um das CO2 auszuspülen. Er wird weiterhin invasiv beatmet. Außerdem hat Papa eine bakterielle Infektion. Sie könnten bei Corona nicht einmal zwei Stunden im Voraus sagen, was passiert. Es komme jetzt auf seinen Kampf an.

Dienstag, 10. November: Papas Atmung ist sehr schlecht. Das Kohlendioxid steige immer wieder. Hören heute zum ersten Mal, dass er vergangene Woche eine Blutvergiftung hatte - wahrscheinlich hat irgendein Medikament mit dem Dexamethason reagiert.

Mittwoch, 11. November: Wir erfahren, dass es sich bei der bakteriellen Infektion um eine Co-Superinfektion handelt, die bei schwerem Covid-19-Verlauf auftauchen kann. Diese „Baustelle“ sei mit Breitbandantibiotika im Griff, sagt die Ärztin. Papa presst wohl gegen die Intubation an und das tue der Lunge nicht gut. Sie wollen am nächsten Tag einen Luftröhrenschnitt machen. Das werde entlasten.

Donnerstag, 12. November: Papa bekommt den Luftröhrenschnitt. Weil er wegen der CO2-Dialyse Heparin bekommt, einen Gerinnungshemmer, hat er Blutungen am Tracheostoma, also an der operativ angelegten Öffnung. Das sei sehr unangenehm für ihn.

Freitag, 13. November: Dialyse ist jetzt ab, weil man so kein Heparin mehr geben muss und dadurch - so die Hoffnung - auch die Blutung an der Luftröhre gestoppt wird. Er wird jetzt nur noch invasiv über den Respirator beatmet.

Sonntag, 15. November: Papa kommt an die Ecmo-Maschine. „Sonst überlebt er es nicht“, sagt die Ärztin. Der „Anschluss“ klappt gut, er wird vom Beatmungsgerät entkoppelt, weil die „externe Lunge“ die Sauerstoffversorgung übernimmt - vielleicht für Wochen. Die Lunge brauche diese Zeit, um zu heilen und wieder zu funktionieren, sagt sie. Die dicken Ecmo-Schläuche würden an Gefäßen am Hals und an der Leiste eingeführt. Papa blutet an der Schnittstelle am Hals und erhält Bluttransfusionen. Das Heparin, das ihm wieder verabreicht werden muss, macht wohl alles schlimmer.

Freitag, 20. November: Heute werden die Sekrete in der Lunge, die Papa nicht selbst abhusten kann, mit einem Bronchoskop entfernt.

Samstag, 21. November: Papa blutet wieder sehr stark. Die Schnittstelle wird vernäht, er bekommt kreislaufunterstützende Medikamente, viel Flüssigkeit und Bluttransfusionen.

Montag, 23. November: Die Blutung ist endlich gestoppt. Ärztin betont, dass Papa ein kritischer Patient ist und man viel tun muss, damit er stabil bleibt. Ecmo sei ein High-End-Verfahren. Sie können nur hoffen, das Gerät nach und nach abhängig von der Sauerstoffsättigung in seinem Blut anpassen zu können.

Mittwoch, 25. November: Heute wurde ein CT von Papas Kopf gemacht, sagt der Arzt, weil die Pupillen unterschiedlich groß waren. Ergebnis: „keine Auffälligkeit“, ein gutes Zeichen. Das CT der Lunge zeigt: Das Gewebe sieht noch immer „sehr böse“ aus. „Kaum was Gutes zu erkennen.“ Sie tauschen Ecmo aus, weil es technisch nicht mehr einwandfrei läuft. Das sei normal, weil die Maschine ununterbrochen das Blut mit Sauerstoff anreichert. Sie überprüfen, ob Papa eine Spontanatmung zeigt. Tut er nicht.

Donnerstag, 26. November: Papa ist noch immer in einer lebensbedrohlichen Situation, sagt der Arzt. Er kann nicht sagen, wie lange es dauert, bis er von Ecmo entwöhnt wird und wieder alleine atmen kann.

Samstag, 28. November: Papas Zustand ist stabil. Keine Verbesserung oder Verschlechterung.

Montag, 30. November: Ärztin erklärt, dass sich Flüssigkeit in Papas Lunge angesammelt hat. Grund sei, dass Papa sich nicht bewegt. Sie wollen das Wasser per Punktion oder medikamentös entfernen. Sie sagt, dass wir zuversichtlich bleiben sollen, die Ärzte daran glauben, dass Papa es schaffen wird. Er werde allerdings noch eine sehr lange Zeit am Ecmo bleiben müssen.

Die ganzen Behandlungen wurden uns in dieser Sprache erklärt. Ich weiß, dass so viel mehr hinter „Ecmo angepasst“ steckt. Aber ich bin froh über alles Unkomplizierte, das ich höre. Ich lese Fachartikel und Leitlinien und erkenne, dass sein Krankheitsverlauf lehrbuchhaft ist. Mein Vater hatte das Pech, am Anfang nicht ernst genommen und im ersten Krankenhaus abgewiesen zu werden. Danach ist sehr vieles eingetreten, was bei ernsten Verläufen passieren kann.

Mein Vater war ein kerngesunder Mensch, bis er es nicht mehr war. Er rauchte und trank nicht, hat keine erwähnenswerten Vorerkrankungen. Er ernährte sich sehr gesund, ist schlank. Der einzige Covid-19-Risikofaktor ist sein Alter. Mein Vater ist 70.

Ich vermisse ihn sehr. Seine Werkzeuge, die er für meinen Umzug nach Berlin mitgebracht hatte, liegen noch in meinem Flur. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, brennen meine Augen. Mir tut unendlich leid, was er gerade mitmachen muss. Dass meine Familie nicht mehr für ihn tun kann, als einerseits gegen den Arzt vom Bereitschaftsdienst Beschwerde einzulegen (der Fall wird aktuell von der Landesärztekammer überprüft), andererseits den Pflegern und Ärzten im zweiten Krankenhaus eine Kiste voller Süßigkeiten zu schicken, so wie es mein Vater auch getan hätte.

Und ich selbst kann als Journalistin mit dieser Geschichte vielleicht ein bisschen dazu beitragen, dass es weniger Leute gibt, die dieses tödliche Virus nicht ernst nehmen, die Verläufe herunterspielen, niemanden kennen wollen, der Corona hat, die Beispiele für ausgedacht und die politischen Maßnahmen für übertrieben halten.

Immer wieder frage ich mich, ob sein Lungengewebe sich schnell genug regenerieren wird. Was passiert, wenn die Maschinen komplett abgestellt werden. Wird er es jemals schaffen, wieder eigenständig zu atmen? Wird er neben möglichen Lungenproblemen Langzeitfolgen haben? Wie stark sind seine Muskeln durch die lange Bettlägerigkeit geschwächt? Wie viel Gewicht hat er verloren? Wie geht es ihm psychisch, wenn er wieder aufwacht? Reha, Nachbehandlungen, Medikamente. Was für ein Leben wird er leben wollen?

Schlimmer noch als das Wissen, dass mein Vater sich seit Wochen irgendwo zwischen Leben und Tod befindet, ist die Ungewissheit. Ich wache jeden Morgen mit einem Knoten in der Brust auf. Frage mich, ob er die Nacht überstanden hat. Meine Schwester und ich rufen abwechselnd auf der Intensivstation an, die wir wegen der Pandemie nicht betreten dürfen. Wenn es schlecht läuft, weil dort alle so schwer beschäftigt sind, bekommen wir erst um 18 Uhr die Nachricht, wie es meinem Vater seit dem Vortag ergangen ist.

Ungewissheit zerstört. Sie zehrt am Herzen und an den Nerven. Sie lässt mich immer wieder tief Luft holen und im selben Moment an meinen Vater denken, der selbst nicht mehr atmen kann. Ungewissheit lässt den Blutdruck steigen. Sie lässt uns lauthals fluchen oder leise beten.

Ich bin nicht sauer auf das medizinische Personal. Ich bin ihnen dankbar. Ich weiß, wie viel sie zu tun haben, wie überlastet die Intensivstationen in ganz Deutschland sind. Dass es in der Klinik neben meinem Vater Dutzende andere Patienten und Angehörige gibt, die sie behandeln und betreuen müssen. Nein, wütend bin ich nicht. Ich bin am Ende.

Redaktioneller Hinweis: Der Vater unserer Autorin ist in der Nacht zu Freitag verstorben. Die Redaktion nimmt Anteil und spricht Miray Caliskan und ihrer Familie ihr tiefempfundenes Beileid aus.

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