"Hier weg? Undenkbar!"

Ursula Keim-Scherer ist Mannheimerin und Zeitungsleserin aus Überzeugung. Heute feiert die Physiotherapeutin aus Feudenheim ihren 60. Geburtstag - mit Besuch aus den USA.

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
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Verwurzelt in "ihrem" Stadtteil: Ursula Keim-Scherer flott unterwegs in Feudenheim.

© Rinderspacher

Zeitunglesen gehört für Ursula Keim-Scherer wie ihr Müsli zum Frühstück. Und dabei will sie Papier in der Hand halten, die Seiten beim Umblättern rascheln hören. Die heutige Ausgabe samt Jubiläumsbeilage hat die Mannheimer Physiotherapeutin mit besonderer Spannung erwartet - schließlich feiert sie mit dem "MM" auf den Tag genau einen runden Geburtstag - ihren 60.

Von jenen globalen, nationalen wie lokalen Ereignissen, über die der "Mannheimer Morgen" im Laufe von sieben Jahrzehnten berichtete, hat sie so manche als Teil ihrer Biografie miterlebt. Was bewegte sie besonders? Ursula Keim-Scherer muss nicht lange überlegen: "Der Fall der Mauer!"

Besonders eingeprägt hat sich bei ihr die im Fernsehen verfolgte legendäre Prager Balkonrede, bei der Außenminister Hans-Dietrich Genscher Tausenden DDR-Flüchtlingen im Garten der bundesdeutschen Botschaft zurief: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise möglich geworden ist . . ." - wobei die letzten Worte in frenetischem Jubel untergingen. Wenn sich die Mannheimerin diese Szene von 1989 in Erinnerung ruft, bekomme sie noch immer eine Gänsehaut. "Bis zur Wende war die DDR für mich ein totes Land, von dem ich kaum etwas wusste."

Hautnah erlebt hat Ursula Keim-Scherer die Entwicklung ihrer Heimatstadt: "Ich finde, dass Mannheim sehr weltoffen geworden ist und inzwischen kulturell viel zu bieten hat."

Ohne Wasserturm und Quadrate hat sie es nur wenige Jahre ausgehalten. Die im Klinikum ausgebildete Physiotherapeutin begleitete zwar ihren Ehemann Hubert Scherer nach Stuttgart, als sich der gelernte Konditor entschloss, dort fürs Lehramt zu studieren - aber nach dem Examen kehrten beide in die Kurpfalz zurück.

"Ich habe meine Selbstständigkeit wie viele Kolleginnen mit Familie begonnen - in einem als Praxis eingerichteten Kellerraum im Haus", erzählt Ursula Keim-Scherer. Ihre Mutter habe ihr ermöglicht, Beruf und Kinder - Sohn und Tochter - unter einen Hut zu bringen. "Ihre Hilfe war genial!" Aus ersten stundenweisen Einsätzen entwickelte sich allmählich eine physiotherapeutische Praxis, zu der heute neun Mitarbeiter gehören. "Ich habe einen tollen Beruf, weil ich fast immer helfen kann." Außerdem schätzt die Physiotherapeutin den menschlichen Kontakt.

Viele Patienten kennt sie seit Jahren - von so manchen auch deren Lebensgeschichte. Wenn Ursula Keim-Scherer durch Feudenheim radelt, kommt es so gut wie nie vor, dass sie nicht erkannt wird, ihr niemand zuwinkt. Sie fühlt sich in "ihrem" Stadtteil verwurzelt. Wenn sie von Pensionären hört, die alles aufgeben und wo ganz anders hinziehen, staunt sie. "Von Feudenheim weg? Für mich undenkbar!"

Biografien, die - wie bei ihr - mit einer Stadt verwoben sind, dürften wohl seltener werden, sinniert die Mannheimerin aus Leidenschaft. Sie berichtet von ihrem Sohn, den es als Molekularbiologe nach Princeton in die USA gezogen hat, wo er inzwischen auch seine Frau fand. Das dreieinhalbjährige Enkelkind wächst weit weg von Rhein und Neckar auf.

Die Großmama tröstet sich damit, dass die Welt dank moderner Reisemöglichkeiten zusammengerückt ist. "Wir fliegen zweimal pro Jahr zu einem Familienbesuch." Außerdem möchte die Reisebegeisterte mit ihrem Mann "noch nicht erkundete Flecken dieser Erde" kennenlernen. Beispielsweise Australien.

Das Leben hat Ursula Keim-Scherer gelehrt, dass es manchmal anders kommt als gedacht: Vier Wochen lang lag sie im Koma, weil ein Mulltupfer, der bei einem Routineeingriff im Bauchraum vergessen worden war, eine schwere Sepsis ausgelöst hatte. Hinterher erzählte ihr ein Arzt, dass eine solch massive Blutvergiftung üblicherweise nur einer von Tausend überlebt. "So etwas macht demütig."

Ans berufliche Aufhören denkt die 60-Jährige noch nicht. Spannend findet sie, dass die Physiotherapie immer etwas Neues bringt. "Total fasziniert hat mich eine Fortbildung über Faszien." Diese feinen Bindegewebshäute , die Muskeln wie Organe umhüllen, seien zwar seit Jahren bekannt, "wurden aber in ihrer Wirkungsweise unterschätzt".

Den runden Geburtstag im Kreise der Familie - samt der "Amerikaner" auf Besuch - feiern zu können, macht Ursula Keim-Scherer glücklich. Gleichwohl habe sie ein "Kopfproblem": "Ich fühle mich gar nicht wie 60!"

Freie Autorin

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