Wir wollen Ihr Marktplatz bleiben

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In Zeitungsartikeln zu runden Geburtstagen suchen wir Journalisten meist nach den guten Seiten. Wir schreiben auf, was Menschen für die Gesellschaft, den Verein, den Staat, die Demokratie, ihre Firma, ihre Familie vollbracht haben.

Heute haben wir Geburtstag. Der "Mannheimer Morgen" wird 70, geboren am 6. Juli 1946, es war an einem Samstag. Die Schlagzeile der ersten Ausgabe lautet "Friedenskonferenz am 29. Juli in Paris".

Wie schreibt man über seinen eigenen Geburtstag, wenn es selbstkritisch und selbstbewusst - aber nicht selbstgefällig - klingen soll? Wer könnte diese Fragen besser beantworten als Sie, unsere Leser.

"Es muss mehr Positives über Mannheim berichtet werden, die Zeitung hat manchmal zu viel Distanz. Das stört Menschen, die hier verwurzelt sind", sagte Leser Roger Zimmermann aus Friedrichsfeld vor neun Monaten. Oder Leser Heinrich König; er erläuterte bei unserer neuen Aktion "Blattkritik von außen" als Besucher der Redaktion in der Dudenstraße, dass manche Kulturtexte "zu eigendarstellerisch" seien. Für Politikwissenschaftlerin und Leserin Andrea Römmele war besonderes wichtig, dass "ich den Basistexten trauen und vertrauen kann".

Oder Burkhard C. Kosminski, der Schauspielintendant des Nationaltheaters Mannheim; er stellte im Juni bei seiner "Blattkritik von außen" fest, dass "Theater und Zeitung etwas gemeinsam" hätten. "Medien wie der ,Mannheimer Morgen' sind zentral neben Kunst, Kultur und Bildung. Wenn das weggeht, werden wir eine Geiz-ist-geil-Gesellschaft haben - was sich niemand wünschen kann."

Eine Zeitung soll - damals wie heute - der Marktplatz sein, ein Platz für Informationen, Austausch, Diskussion, Diskurs, Meinungsbildung, Freud, Leid, Unterhaltung und auch ein bisschen Getratsche.

Damals, als Eitel-Friedrich Freiherr Schilling von Canstatt, Oskar Hörrle und Karl Ackermann 1946 die Lizenz zum Druck des "Mannheimer Morgen" bekamen, lagen die meisten Marktplätze in unserem Land noch in Schutt und Asche. Der Zweite Weltkrieg (1939 bis 1945) hatte - entfacht von einem diktatorischen Despoten und getragen von folgsamen Deutschen - millionenfachen Tod, Not, Elend, Entwurzelung und Zerstörung über Europa und die Welt gebracht. In der Zeit gab es in Deutschland keine freie Presse, keine freie Meinungsäußerung. Begriffe wie "Lügenpresse" gehörten zum festen Wortschatz derer, die Deutschland ins Unglück stürzten. Wortschöpfungen wie diese finden leider auch aktuell Abnehmer. Wir stellen uns dem - wahrhaftig und jeden Tag, auch am Geburtstag. Wer 70 Jahre alt ist, hat viel Erfahrung über die Jahre gesammelt und sich auch immer wieder erneuert. 70-Jährige haben Dinge kommen, bleiben und gehen sehen. Wir als Zeitungshaus - mit vielen Kanälen ins Internet - haben die Ereignisse der Welt und der Region wie unter einem Brennglas Tag für Tag für Sie, unsere Leser, zusammengestellt. Ob die verheerende Gasexplosion bei der BASF 1948, der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaften 1954, 1974, 1990, 2014, die erste Mondlandung von Apollo 11 im Juli 1969, der Kniefall von Warschau 1970 durch den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt, Mauerbau 1961 und Mauerfall 1989.

Kriege und Konflikte in aller Welt, überraschende und erwartete Wahlsiege, Terror, Naturkatastrophen, Glücksmomente im Sport, in der Musik, vor der Bühne, Abriss, Aufbau, Umbau, Anbau: Zeitung ist und bleibt immer auch ein Zeugnis der Zeit - informierend, berührend, bewegend, anregend. Manches wiederholt sich in 70 Jahren auf den ersten Blick und ist doch irgendwie anders. Und im Mittelpunkt stehen Menschen. Denn Menschen interessieren sich für Menschen - schon immer.

Unsere Leser - also Sie - haben uns eben fest im Blick. Und wir Sie. So finden Sie in dieser 56-seitigen Ausgabe Menschen, die dem "MM" schon lange und generationenübergreifend die Treue halten. Sie alle erzählen "ihre" Geschichten, was uns verbindet - und warum.

"Die Zeitung ist eine der letzten Klammern in einer immer weiter auseinander driftenden Gesellschaft, in der sich längst schon die Orthopäden kaum mehr mit den Handchirurgen verständigen können", hat der 2003 gestorbene, große Journalist Herbert Riehl-Heyse einmal geschrieben. Nehmen Sie als aktuelles Beispiel dafür unsere laufende Serie "Die Zukunft der Rente" - eine Klammer über mehrere Generationen. Seit drei Wochen und noch bis Ende Juli stellen wir Ihnen die Altersversorgung vor, die nun in Schieflage zu geraten droht. Die Rente und ihre Entwicklung, die Gewinner und Verlierer, die politischen Begleiterscheinungen, Einzelschicksale von Frauen - ein Thema, was alt wie jung (be)trifft.

Wir wollen auch weiter eine Klammer für Sie sein - kritisch, verbindlich, konstruktiv-gestaltend, exklusiv, prüfend, einordnend, offen, der Stadt und der Region - und vor allem Ihnen - zugeneigt. Wir sagen Ihnen Danke für 70 Jahre "MM".

Herzlichst Ihr

Dirk Lübke, Chefredakteur

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