Pop - Xavier Naidoos siebtes Soloalbum "Für dich" ist weder musikalisch noch politisch ein Aufreger - trotzdem provoziert er weiter

Salbungsvolle Langeweile

Von 
Jörg-Peter Klotz
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Zweite Platte in diesem Jahr nach MannHeim" von den Söhnen, wieder kein richtiger Hit: Xavier Naidoo, hier bei der Benefizshow "Gemeinsam für unsere Kinder" am 5. November in der SAP Arena.

© Bilder. Rinderspacher/jpk

Um es vorwegzunehmen: Die Stadt Mannheim wird nach Veröffentlichung von Xavier Naidoos neuer Soloplatte keine Krisensitzung ansetzen müssen. Wegen der 14 persönlich und ruhig gehaltenen Lieder auf "Für dich." muss sich niemand in Grund und Boden schämen, weil "missverständliche" Textzeilen als zusätzlicher Brandbeschleuniger für die Spaltung unserer Gesellschaft wirkten. Fahrlässig und ohne Rücksicht auf den vorhersehbaren, neuerlichen Missbrauch durch Rechtsextreme und Populisten unters Volk gebracht. Pegida und Co. werden also auf der Suche nach einer neuen Hymne à la "Marionetten" hier nicht fündig.

27. Veröffentlichung seit 1998

  • "Für dich." ist gestern bei Naidoo Records erschienen. Es ist das siebte Solo-Studioalbum des 46-Jährigen, seitdem er 1998 mit dem Millionenseller "Nicht von dieser Welt" debütierte.
  • Dazu kommen sechs Platten mit den Söhnen Mannheims, zwei eher experimentelle Veröffentlichungen als Der Xer und eine mit Kool Savas als Duo Xavas sowie insgesamt neun Live-Alben und zwei Best-of-Sampler.
  • Zuletzt hatte Naidoo als Texter des politikerfeindlichen Söhne-Mannheims-Liedes "Marionetten" Ende April für heftige politische Kontroversen gesorgt.

Leider sind Aufreger auch musikalisch Mangelware: Der erste Song "Nimm mich mit" schielt mit seiner Mixtur aus U2-anno-1985-Gitarrenfiguren und Möchtegern-Hymne für die Fußball-WM zwar sehr offensichtlich auf Radioeinsätze und Hitparade. An letzterer ging die Single aber erstaunlich spurlos vorbei. Ebenso an den Top 20 der Airplay-Charts von Media Control. Das gab es tatsächlich noch nie: Bis dato waren die ersten Auskopplungen aus Naidoos Alben Karriere-Meilensteine und/oder kommerzielle Erfolge. Man braucht sich nur die Liste ins Gedächtnis zu rufen: "20 Meilen" (1998, Platz 32), "Wo willst du hin" (2002, 3.), "Dieser Weg" (2005, 2.), "Alles kann besser werden" (2009, 6.), "Bei meiner Seele" (2013, 2.), und bei "Frei" reichte es 2016 immerhin noch für eine Chartswoche auf Rang 64.

Wobei Xavier Naidoo in erster Linie ein Albumkünstler ist. Das unterstreicht die makellose Bilanz von sechs ersten Plätzen für die regulären Studio-Veröffentlichungen eindrucksvoll. Seine unverbrüchliche Rest-Fanbasis im sechsstelligen Bereich dürfte dafür sorgen, dass diese Serie weiter anhält. Dafür spricht schon mal die kaum vorhandene Konkurrenz in dieser Veröffentlichungswoche: Außer den kommerziell nicht mehr extrem relevanten Björk und Noel Gallagher erscheinen fast nur Live- und Wiederveröffentlichungen.

Kalmbacher wieder Produzent

Gegen echte Schwergewichte hätte es "Für dich." wohl schwer: Denn wie beim Vorgänger fehlt auch nach "Nimm mich mit" der Hit, der die Massen mitnimmt. Bloß, dass dies bei dem von Produzent Moses Pelham als Gesamtkunstwerk konzipierten "Nicht von dieser Welt 2" pure Absicht war. Jetzt führte wieder Jules Kalmbacher beim Gros der Songs die Klangregie. Der Platin-bewährte Popakademie-Student, der 2013 geradezu märchenhaft vom Studiopraktikanten zu Naidoos Produzent, Co-Songwriter und Hauptmusiker aufgestiegen war, hat allerdings nicht mehr den starken stilistischen Durchgriff wie auf "Bei meiner Seele. Darauf verpassten Kalmbachers dezente Indie-Spielereien Naidoos Sound eine Frischzellenkur. Und konterkarierten so den Eindruck, dass der Mannheimer Soulmann seit Jahren ständig dieselbe Ballade veröffentlicht - zumindest, was sein Radio-Material angeht.

Nun schlägt das Imperium offenbar zurück, beim ersten Hören dominiert der Eindruck: ein Tempo, ein Brei aus salbungsvoller Langeweile. Wie immer gewinnt auch dieses Naidoo-Album mit jedem Hören, dafür sorgen die konkurrenzlose Stimme, die handwerkliche Qualität seiner Mitstreiter (zum Beispiel Tommy Baldu am Schlagzeug) und gekonnte Soundtüfteleien, die sich mit der Zeit in den Vordergrund drängen. Nur: All die "Missverständnisse" von Berlin 2014 bis "Marionetten" sorgen wie schon beim kommerziell nahezu gefloppten jüngsten Söhne-Album dafür, dass nur noch die eingefleischten Fans mehr als ein- oder zweimal so genau hinhören.

Dass die ruhigsten Songs die stärksten sind, macht eine echte Breitenwirkung nicht wahrscheinlicher. Das chorisch sehr schön arrangierte "Stille" erinnert zum Beispiel daran, warum der 46-Jährige einst durchaus zu Recht als Songpoet durchging. Besonders wirkungsvoll ist das an Fatboy-Slim-Big-Beat-Soul erinnernde "Gib mir Liebe", obwohl - oder weil - Naidoo es fast ohne Emphase singt. Dieser Gegensatz knistert regelrecht. Ähnlich wie der in die Breite programmierte Dubstep-Beat im Refrain von "Bei dir sein". Solche Spannung sucht man ansonsten eher vergeblich. Speziell die beiden Nummern des früheren Erfolgsduos Naidoo/Herberger erinnern an die sechste Fortsetzung einer Filmreihe - alles voller Selbstzitate und Wiederholungen. Auch die restlichen Lieder heben sich erschreckend wenig von der zahlreich gewordenen Konkurrenz im Deutschpop ab.

"Marionetten" jetzt als T-Shirt

Die Texte drehen sich häufig um Familienthemen. Das wohl auf seinen Sohn gemünzte Titellied "Für dich" zeigt einmal mal mehr, dass Naidoo sich auch in Liebesdingen gern martialisch ausdrückt: "Für dich das heranrasende Geschoss aus der Luft reißen / Für dich, denn dein Leben ist zu schützen, auch wenn Kugeln treffen oder streifen." Das einzige explizit politische Lied "Hoch entwickelt" kritisiert zur Abwechslung unfallfrei die Gesellschaft und diagnostiziert eine "Hoch entwickelte Kommunikationsstörung". Was man so sehen kann. Aber das klingt - mit Verlaub - fast lachhaft aus dem Mund eines Medienprofis, der es regelmäßig schafft, mit seinen Texten und dilettantischer Krisen-PR genau diejenigen auf die Palme zu bringen, die in Sachen Frieden, Liebe und Offenheit eigentlich auf seiner Seite stehen.

Wie wenig Naidoo und Company diesen Mechanismus verstanden haben, zeigt der Blick auf den beigelegten Werbezettel: Da wird nach all dem Ärger um "Marionetten" allen Ernstes das T-Shirt zum Song angepriesen. Setzen, sechs.

Ressortleitung Stv. Kulturchef

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