Dramatische Beschleunigung

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Zum Leserbrief „Zu viele Jahre im Elfenbeinturm“ vom 7. Juli:

Beim Lesen der Zeilen des Leserbriefes von Herrn Golf traut man seinen Augen nicht, um es mit seinen Worten zu formulieren. Wir leben in einer Zeit dramatisch beschleunigter Entwicklungen und Umbrüche, und da ist es schon höchst erstaunlich zu sehen, mit welcher Chuzpe hier die drängendsten Probleme unserer Tage, und zwar die (vom Autor selbst benannt) sich stets weiter öffnende Schere zwischen arm und reich, prekäre Arbeitsverhältnisse, Pflegenotstand, Mangel an bezahlbarem Wohnraum ganz nach dem Pippi-Langstrumpf-Prinzip: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ auf ein einziges Problemfeld zurechtgebogen werden, nämlich die „anhaltende Migration“.

Frau Jäger liegt mit ihrer Ansicht sicher richtig, dass die derzeitig emotional geführte Asyldebatte die eigentlichen viel tieferliegenden Probleme nur überdeckt. Genauso richtig ist auch, dass diese Debatte von interessierter Seite befeuert wird, um von den eigentlichen Problemen abzulenken und die „anhaltende Migration“ zur monokausalen Ursache aller derzeitiger Schwierigkeiten erklären zu können.

Aber monokausale gesellschaftliche Entwicklungen gibt es nun mal nicht. Gesellschaftliche Prozesse sind immer vielschichtig und miteinander verwoben. Seit Jahren erleben wir eine Umstellung der Politik auf neoliberale Deregulierung und Abbau des Sozialstaates. Irreguläre und atypische Beschäftigungsverhältnisse (Leiharbeit, Werkverträge und Scheinselbstständigkeit) haben rasant zugenommen. Die traditionelle Industriearbeiterschaft, das Rückgrat der Mittelschicht erodiert und die Digitalisierung – Stichwort Industrie 4.0 – gefährdet weitere Arbeitsplätze.

Damit einher geht eine ökonomische Individualisierung und steigende Eigenverantwortlichkeit, das heißt, der Einzelne ist für sein ökonomisches Schicksal vollständig selbst verantwortlich. Die Gesellschaft teilt sich mehr und mehr in Modernisierungsgewinner und -verlierer. Dadurch werden Ängste wirksam: Ängste vor ökonomischer, sozialer und politischer Diskriminierung. Wobei das Angst-Gefühl, das „Sich-abgehängt-Fühlen, übergangen und nicht mehr gehört zu werden“ eher entscheidend ist, als die konkrete Lebenslage.

Gleichzeitig fehlen demokratische und soziale Alternativen zur herrschenden neoliberalen Logik, alles und jeden dem kapitalistischen Verwertungsprinzip unterzuordnen, fast vollständig im Angebot der etablierten Parteien. Wenn nun aber ökonomisch erzeugter Frust und Enttäuschung nicht mehr ökonomisch und politisch artikuliert werden können, können diese leicht auf andere Themenfelder umgeleitet werden.

Alles, was man braucht, ist eine sehr einfach nachvollziehbare Geschichte zur Verbreitung simpler Erklärungs- und Verschwörungstheorien: 1. Einen „mächtigen Feind“, dem alles zuzutrauen ist (eine angeblich islamistische Weltverschwörung zur Zerstörung des Abendlandes), 2. einen „nützlichen Idioten“, quasi eine „Voodoo-Puppe“ (Frau Merkel und diejenigen Deutschen, die ihre „kosmopolitischen Spinnereien“ gar bis zur „Umvolkung“ durchsetzen wollen, 3. die Gemeinschaft der „redlichen Bürger“, denen Ruhe und Ordnung und ihre Aussicht auf den verdienten Wohlstand von den beiden Ersteren streitig gemacht werden.

Und schon kann der liberale Rechtsstaat, der Bürgerrechte egalitär auslegt, zum Feind erklärt werden und Flüchtlinge und Migranten aus dem globalen Süden können als Verursacher und Sündenböcke aller Krisen, einschließlich der Klimaveränderung, identifiziert werden. Die eigentlich Verantwortlichen, die Krisengewinner und Steuerhinterzieher, die tatsächlich die Allgemeinheit schädigen, kommen bei dieser Debatte um die „anhaltende Migration“ dann gar nicht erst vor.

Info: Originalartikel unter http://bit.ly/2OajkZL

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