Elfenbeinturm das Maß aller Dinge

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Zum Debattenbeitrag „Versuchen wir uns die Welt zu einfach zu machen, Herr Hinnen?“ vom 28. Juli:

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Grundsätzlich, das ist keine Frage, war für Menschen in jeder Epoche die Welt komplex. Charakteristisch ist heute allerdings, dass die digitale Informationsgesellschaft weltweit Grenzen und Kulturen überschreitend ein Maß annahm, das Erdenbürgern aller Kontinente den Schlaf raubt. Auf der anderen Seite war unser Planet schon immer ein multiples System; im Zuge der Evolution mussten alle Lebewesen den Schritt in eine oft ungewisse Zukunft wagen.

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts, als die technische Revolution die Menschen in ein Zeitalter des ständigen Wandels, des Umbruchs, drängte, änderte sich für sie ihre bis dahin überschaubare Lebensweise. Eine Flut neuer Erkenntnisse und eine Fülle prosperierender Nachrichten züngelten auf die meist einfachen Leute; der Bildungsstand hielt nicht Schritt mit den Ansprüchen des neuen Zeitalters. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde die Gesellschaft schließlich überhäuft mit Massen von Sachverhalten – wichtig und unwichtig zu unterscheiden, wurde zu einer „Mission impossible“.

Im Sekundentakt prasselten Informationen auf alle Gruppen der Gesellschaft nieder. Permanent wurden sie mit Sachverhalten konfrontiert, die eine schnelle Differenzierung unmöglich machten; geboren war die Vereinfachung, unter Ausschluss der Komplexität. Eine Welt, in der wir uns die komplexen Sachverhalte notgedrungen simplifizieren oder es zulassen, bleibt eine Welt des Uninformiertseins, des Unverständnisses. Das Ergebnis: Angst und keine Veränderungen.

Die Flut der überbordenden Messages steigt täglich, ja binnen Sekunden. Was bedeutet, dass einfache Antworten keine relevanten, nachhaltigen Informationen zu Lösungen bieten können. Das wissen auch Politiker, Manager und, nicht zuletzt, Menschenfänger. Mit Hilfe einfacher Argumente – es wird getwittert, was das Zeug hält – sehen diese ihre Stunde gekommen. Populist ist, wer vorsätzlich vereinfacht, weil er es den Mitmenschen weder vermitteln kann, noch mag. Im Ergebnis fördert es die Verzerrung der Gegebenheiten und dogmatisiert, mit dem Ziel der Dramatisierung.

Da Menschen im Herzen, in der Seele, ihre neuralgischen Flecken haben, greifen Tweets und falsch interpretierte Sachverhalte, unmittelbar dort. Unabhängig ihres Bildungsstandes fühlen sie sich endgültig verstanden, sind gar der Auffassung, zu begreifen. In der Tat stimme ich Hinnen zu: mit mehr Metaphern, Modellen, Medien müssen wir vermitteln, damit komplexe Gebilde entzerrt werden. Nur dann sind wir in der Lage, die Kommunikation auf einer Ebene zu führen und zu vermeiden, dass Menschen auf das populistische Glatteis geführt werden.

Die Debatte ist zielführend und trifft den Kern des Miteinanders. Aber bleiben wir ehrlich: Glauben wir ernsthaft, dass Theoretiker mit Praktikern – auf allen Ebenen – gemein sein wollen? Ist nicht, wie von Hinnen beschrieben, der Elfenbeinturm das Maß aller Dinge? Noch immer! Und Elfenbeintürme finden wir heute auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Wer will schon auf sein Ansehen, seine bedeutende Rolle im Dasein, verzichten? Dabei ist die Zukunft mit einfachen Phrasen und egozentrischen Zielen, ohne „Reframing, Heuristiken, Biases“, wie Hinnen beschreibt, nicht zu meistern.

Wir wissen es wohl, aber wie handeln wir? Deshalb: informieren, dialogisieren, in Frage stellen und furchtlos an alle Inhalte herantreten, um uns die Welt verständlicher zu machen. Am Ende gehören dazu auch möglicherweise unbequeme Wahrheiten, mit Sicherheit aber keine Fake News.

Karl-Heinz Schmehr, Lampertheim

Info: Den Originalartikel lesen Sie hier.

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