Erziehung ist Beziehung zum Kind

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Kinder sollen den Prozess erleben, wie aus einzelnen Zutaten ein Ganzes wird, wie beim Kneten eines Teigs, sagt Martina König-Reismann. © dpa

Zum Artikel „Früher Pillen für Zappelphilippe“ vom 23. Juni:

Beim Lesen des Artikels habe ich mich gefragt, ob das frühere Geben von Ritalin an Kinder mit Auffälligkeiten die einzige Möglichkeit und auch die einzige Idee von Ärzten, Erziehern und Betreuungspersonen ist, wenn die Verhaltenstherapie nicht den gewünschten Erfolg bringt? Wie wachsen die Kinder in unserer Gesellschaft heute auf? Und was erleben sie in ihrer Kindheit?

Ein Beispiel: Ein neugeborenes Kind wird mit dem Auto zum Supermarkt gefahren. Der Autositz mit dem darin angeschnallten Kind wird in den ungefederten Einkaufswagen gestellt. Das Kind wird über den Parkplatz in den Supermarkt geschoben. Es liegt in seinem Sitz, den Blick nach oben gerichtet. Die Mutter oder der Vater kauft ein, telefoniert dabei. Das Kind hört unbekannte Stimmen. Von der Decke des Supermarktes leuchten helle Lichtstrahler auf das Kind. Durchsagen und Musik tönen aus Lautsprechern.

Was nimmt das Kind wahr?

Was geht in dieser Zeit in einem Kind vor, was nimmt es mit seinen Sinnen wahr? Wie verarbeitet es seine Erlebnisse? Wenn es die Zeit im Supermarkt verschläft, welche Qualität hat dieser Schlaf dann? Wie wird mit den Auswirkungen umgegangen?

Wie viel Medienkonsum verträgt ein Kind? Wie viel Bewegung braucht ein Kind? Wie viel Nähe und Distanz braucht ein Kind? Es gibt viele Fragen, die ich mir zum Thema Kindheit stelle.

Wenn nun ein Kind in die Kinderpsychiatrie aufgenommen wird, weil es zu Hause und in seiner Einrichtung nicht mehr tragbar ist, hat es dann eine reale Chance, das auszugleichen, was bisher schlecht gelaufen ist in seinem Leben?

In diesem Artikel wird beschrieben, dass wenn die Verhaltenstherapie nicht den gewünschten Erfolg bringt, frühzeitig Ritalin gegeben werden soll. Ich frage mich, ob Verhaltenstherapie erstens die richtige Therapie für Kinder ist, und ob sie zweitens die einzig mögliche Therapie ist? Ist Ritalin die einzige Idee der modernen Kinderpsychiatrie?

Hatten diese Kinder bisher in ihrem Leben genug Möglichkeiten sich im Freien zu bewegen? Können sie hüpfen, springen, laufen, klettern, schwimmen, Rad fahren, Stelzen laufen und so weiter?

Haben sie einen Erwachsenen, an den sie sich anlehnen können, der ihnen ein gutes Vorbild ist? Haben sie jemals die Geschichten von Bullerbü, Michel, Nils Holgersson, Jim Knopf vorgelesen bekommen, während dabei ein Arm liebevoll um ihre Schulter lag?

Hatten sie bisher zumindest einmal die Möglichkeit, einen Hefeteig zu kneten und dabei den Prozess zu erleben, wie aus einzelnen Zutaten ein Ganzes wird? Wissen diese Kinder, wie eine Rose riecht? Haben sie schon einmal Johannisbeeren gepflückt?

Und konnten sie bisher kurz vor dem Einschlafen ihre Sorgen und Ängste mit einem verständigen Erwachsenen teilen?

Beziehung ist elementar

Aus meiner Sicht als erfahrene Pädagogin nach sehr vielen Jahren als Kindergärtnerin, Mutter und Oma, plädiere ich hiermit für alle Kinder dafür, dass keinem Kind Ritalin gegeben werden darf, bevor meine Fragen nicht mit Ja beantwortet werden können.

Hinzu füge ich, dass Erziehung in erster Linie Beziehung zum Kind ist. Ohne Beziehung kann man am Verhalten eines Kindes herumbasteln und unerwünschtes Verhalten beseitigen, jedoch geschieht dies niemals anhaltend. Jedes Kind wünscht sich die Zuwendung durch einen Erwachsenen.

Info: Originalartikel unter http://bit.ly/2Kxr4GZ

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