Leser kritisieren Chemnitz-Briefe

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Passanten stehen am 28. August in Chemnitz an dem Tatort, an dem ein 35-Jähriger erstochen worden war. Nach einem Streit wurde er in der Innenstadt von Chemnitz tödlich verletzt. Die Tat löste rechte Demonstrationen mit tausenden Teilnehmern in der sächsischen Stadt aus und fachte die Debatte um Einwanderung und Asyl an. © dpa

Zum Leserforum vom 5. September:

Die Überschrift „Das sagen Leser unserer Zeitung zu den Ausschreitungen in Chemnitz“, ist zweifach falsch. Sie müsste lauten: Das sagen die immer gleichen üblichen Verdächtigen mit dem Ziel der Verbreitung ihrer Ideologie. Oder: Viele Menschen fühlen sich in diesem Staat nicht mehr wohl, und das hat sehr wohl auch etwas mit diesen Leserbriefschreibern zu tun.

Wer ab und zu mal an den Untergang der Weimarer Republik und das Erstarken der Nazis denkt, dem müssten eigentlich diese schlichten Denkmuster Angst und Schrecken einjagen. Das Erstarken der AfD müsste für alle Bürger mit gesundem Menschenverstand höchst beunruhigend sein.

Doch die Herren Zimmermann, Kircher, Golf versuchen mit scheinbar vernünftigen Argumenten und falschen Einlassungen, das Geschäft der AfD und der rechten Extremisten zu betreiben.

Gunter Zimmermann wiederholt die von der Polizei bereits als Falschmeldung bezeichnete Behauptung rechter Kreise, wonach das Opfer eine bedrängte Frau retten wollte. Dann behauptet er nassforsch, die Willkommenskultur wäre von den Politikern, damit meint er wohl in erster Linie Frau Merkel, initiiert worden, obwohl jedes Kind in Deutschland inzwischen weiß, dass Frau Merkel sich gern einer Entwicklung anschließt, beziehungsweise in diesem Fall der Offenheit und der „Willkommenskultur“ vieler Bürger sicher sein konnte.

Herr Kircher versucht zu suggerieren, dass die Menschen Sorgen haben, die nicht ernstgenommen werden, obwohl täglich in allen Medien danach gefragt wird, wie diese Wutausbrüche zu erklären sind. Chemnitz ist eben keine Stadt wie jede andere in der Bundesrepublik. Die Vergangenheit, die DDR- und die Wendeerfahrungen spielen offensichtlich eine bedeutende Rolle bezüglich des Verhältnisses der Bürger zum Staat. Doch von ihm hört man dazu nichts. Wenn diejenigen, die Wut zeigen, nicht sagen können oder wollen, was ihr eigentliches Anliegen ist, wenn es von Psychologen, Soziologen, Politikwissenschaftlern und andere gedeutet werden muss, dann dürften die einfachen Erklärungen von Herrn Kircher nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

Herr Golf meint, wer als Polizeiangehöriger mit rechten Extremisten marschiert, nehme ein Bürgerrecht in Anspruch und könne das privat tun. Welche Spitzfindigkeit, wenn es um den Hutträger geht, der ja zu dem Zeitpunkt der Aufnahme gar nicht wissen konnte, dass er zum öffentlichen Beispiel für dämliches Verhalten wird. Verwunderlich ist auch, dass rechte Bedenkenträger, die regelmäßig alles was von der EU kommt ablehnen, sich nun auf eine Verordnung berufen, die höchst umstritten ist und möglicherweise mit dem Recht auf freie Berichterstattung kollidiert. Da werden die Gerichte noch Arbeit bekommen. Erstaunlich ist auch die supergenaue Beschreibung des Vorganges, die die Frage aufwirft, ob sich Herr Golf in der Nähe des Hutträgers aufgehalten hat. Einfach lächerlich.

Ja, Journalisten machen ab und zu mal Fehler. Aber sie sind nicht der Büttel des Staates, wie diese Herren und die AfD sie gern sehen und denunzieren. Doch auch ich mache mir Sorgen, dass unsere Journalisten zunehmend die Schere im Kopf haben, wenn solche Zeitgenossen die Zeitungen mit Leserbriefen bombardieren. (Günter Kirchner, Mannheim)

Mit Erschütterung habe ich die Leserbriefe der Herren Golf, Kircher und Zimmermann gelesen und ich frage mich, ob dies tatsächlich das Bild der gesellschaftlichen Mehrheit ist.

Ja, Integration schafft auch Probleme und es wäre naiv dies zu negieren. Ja, geflüchtete Menschen kommen unter Umständen mit anderen Ansichten hinsichtlich Bildung, Recht und Verhalten zu uns. Und ja, eine oftmals mehrmonatige, teils lebensgefährliche Flucht aus einem Krisengebiet sorgt mit Sicherheit dafür, dass manche dieser Menschen mit einem erhöhten Aggressionspotenzial zu uns kommen.

Aber: Nein, das scheinbar wieder selbstverständlich gewordene Skandieren rechtsextremer Parolen oder das Zeigen verfassungsfeindlicher Gesten, wie zuletzt in Chemnitz dokumentiert, hilft uns bei der Lösung dieser Probleme nicht weiter. Nein, das Hetzen von Menschen mit (angeblichem) Migrationshintergrund durch deutsche Innenstädte befördert keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und nein, die bereits vor einiger Zeit getätigten, aber immer noch beispielhaften Äußerungen, „notfalls von der Schusswaffe Gebrauch (zu) machen“ um flüchtende Menschen an der Grenze abzuhalten (AfD) oder die „Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pressehäusern (zu) prügeln“ um das eigene Weltbild durchzusetzen (Pegida), tun dies ebenso wenig.

Stattdessen spalten sie unsere Gesellschaft und sorgen dafür, dass dringend notwendige, konstruktive Diskussionen zum Thema Integration – aber auch zu nicht minder dringlichen Themen wie dem Klimawandel, dem Pflegenotstand, der bevorstehenden Rentenproblematik oder dem Wohnungsmangel – verdrängt oder gar nicht erst geführt werden.

Angesichts der Komplexität dieser Themen reicht es eben nicht „Lügenpresse!“, „Merkel muss weg!“ oder „Wir sind das Volk!“ zu schreien. Stattdessen müssen wieder abstrahierende und sachliche Debatten geführt werden: Und das nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch und gerade in unser aller Zivilgesellschaft! (David Beck, Mannheim)

Info: Originalartikel unter http://bit.ly/2Ork2le 

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Kommentar von
Christian Unger
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