Unmut über die Agenda der SPD

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Die gestellte Frage: „Hätte die SPD nach dem ,Asylkompromiss’ die Regierung verlassen müssen?“ ist eigentlich zweitrangig, solange die dahinter stehende Annahme als selbstverständlich hingestellt und gar nicht hinterfragt wird: Gehört es wirklich zum Markenkern der Sozialdemokratie, neben manchen anderen ach so wichtigen soziokulturellen Problemen, die Fahne der Willkommenskultur bedingungs- und kritiklos hochzuhalten? Ist das wirklich das vordringliche Anliegen der Basis und der Wähler, die – immer noch – dieser Partei als soziales Gewissen ihre Stimme geben?

Oder nicht viel mehr die Meinung einer, sagen wir mal vorsichtig, anders sozialisierten Kaste von Funktionären und Politikern, die ihre Sicht der Dinge als Mehrheitsmeinung verlautbaren, dies durchaus im Wortsinne? War nicht die SPD die Partei der Arbeiter, der Menschen in der Mitte und im unteren Drittel, die zu Recht fürchten, immer weiter bei der Verteilung des Erarbeiteten zu den Verlierern zu gehören? Wie war gerade in Ihrer Zeitung zu lesen: seit 1999 kaufkraftbereinigt 17 Prozent Zuwachs bei den Einkommen der oberen zehn Prozent und gleichzeitig 14 Prozent Verlust bei den zehn Prozent der unteren Einkommen.

Dreiste Analogie

Die Vorstandsmitglieder der deutschen DAX-Konzerne verdienen, man muss sich dass wirklich mal deutlich klarmachen, 71 mal (!) so viel wie der Durchschnitt (!) ihrer Angestellten. Und gleichzeitig fehlen im unteren Preissegment hunderttausende Wohnungen. . . Die SPD war von besagten 20 Jahren 16 Jahre lang an der Regierung oder zumindest an ihr beteiligt.

Da nimmt es nicht Wunder, dass das Lösen der Probleme der Mühseligen und Beladenen dieser Welt auch für den klassischen SPD-Wähler nicht gerade oberste Priorität genießt, im Gegenteil, er dadurch viele seiner eigenen noch verschärft sieht, sich von der eigenen Partei alleingelassen fühlt und sein Heil möglicherweise bei anderen sucht.

Und nebenbei: Lieber Herr Pecht, die Analogie zur Flucht von Willy Brandt nach Norwegen aus Nazideutschland als Memento für die SPD zu bemühen, das ist schon dreist. Damals ging es ausschließlich um politische Flüchtlinge, die größtenteils um ihr Leben fürchten mussten, nicht um Zuwanderung aus wirtschaftlichen Gründen.

Heute ist die Situation eine komplett andere – hier heißt es, zu differenzieren zwischen denen, die tatsächlich Schutz benötigen, und den vielen anderen, die sich hier ein besseres Leben erhoffen, für die unsere gesellschaftlichen Ressourcen aber nicht ausreichen.

Nur darum geht es bei der ganzen Diskussion, und das alles in denselben Topf zu werfen, ist entweder schlechter Journalismus oder Absicht. Und diese merkt man und ist, wieder einmal, verstimmt. Übrigens gibt es für solche Vereinfachungen und das Argumentieren mit halbwahren Anekdoten einen Ausdruck. Ein Wort, das Sie sich selber vorwerfen lassen müssen: Populismus.

Jan Benedict Tiggeler, Mannheim

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Veröffentlicht
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