Pflegende und Krisen

Ich war ein paar Monate still, ich weiß, aber obwohl meine akuten Pflegesituationen vorbei sind, gibt es noch eine, die übrig geblieben ist – nämlich die Pflege von mir selbst. Einfach mal in sich zu gehen und zu erkennen wann es gilt, die Bremse zu ziehen und sich zurückzuziehen. Besonders in einer Pflegesituation eine heikle Angelegenheit, deren Wichtigkeit aber nicht zu unterschätzen ist.

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Die Erkenntnisse einer pflegenden Angehörigen - Frau G. erläutert ihre Sicht der Dinge

Nach dem Pflegeforum ging es Schlag auf Schlag: Wir sind in ein neues Büro gezogen und bis Weihnachten hatten wir kein einziges freies Wochenende. Ich war ziemlich platt und in der Zeit hatte ich keine Energie mehr, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Ich bin der Meinung, die Leserschaft merkt es und ich finde es nicht zielführend mich zu zwingen, wenn im Endeffekt nichts wirklich Sinnvolles dabei rauskommt. Doch jetzt ist alles wieder im Lot und ich bin voller Tatendrang. Und jetzt? Es kam Corona…

Die Krise und was sie bei mir bewirkt

Was bedeutet das für uns alle? Als das Ganze losging, war ich beruflich in Ägypten und habe es aber noch rechtzeitig geschafft, wieder nach Hause zu fliegen. Die ersten ein bis zwei Tage schien mir der ganze Hype unwirklich, da ich in Ägypten nur sehr wenig Information erhielt und auch keine Zeit dazu hatte, mich aktiv zu informieren. Somit prasselte alles auf mich ein. Das bewirkte, dass wir erst einmal etwas gestresst waren, da sowohl mein Lebenspartner als auch ich selbstständig sind. Nicht gerade tolle Voraussetzungen. Aber schon nach den ersten Tagen zurück in Deutschland schlug bei mir mein Krisenmodus an: Jahrelanger Verzicht auf grundliegendes als ich in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und gar noch zu Zeiten des kalten Krieges dort war, hatten bei mir einen Reflex ausgelöst und der Improvisations- und Krisenmodus ist angesprungen. Ich muss gestehen, ich sehe mich in dieser Hinsicht als außerordentlich privilegiert an. Ich durfte in meinem Leben schon so viele verschiedene Lebenssituationen durchleben, die außergewöhnlich waren (in vielerlei Hinsicht), so dass ich jetzt das Gefühl habe, es musste einfach so sein, denn nun kann ich von meinem Erfahrungsschatz profitieren. Ich hatte dies nie als etwas Besonderes empfunden, bis ich bemerkte, dass es doch einige Menschen in meinem Umfeld gibt, die die heutige Situation als sehr belastend und aussichtslos empfinden.   

Pflegende Menschen sind Krisen gewohnt

Ja, natürlich macht die Corona-Epidemie Angst, da es unsere Gesundheit betrifft, die man nicht so leicht schützen kann. Wenn es ‚nur‘ um eine finanzielle Krise gegangen wäre, würde es vielleicht einfacher sein. Aber nun kommt auch hinzu, dass fast alle ihre Gewohnheiten umstellen müssen und viele keine Vergleichsmöglichkeiten zu anderen ‚Zeiten‘ haben. Und hier sind pflegende Menschen erst mal im Vorteil! Sie müssen sich in nahezu Lichtgeschwindigkeit an Ungewohntes gewöhnen und ihren Tagesablauf komplett umstellen – und zwar von jetzt auf sofort. Dieses Gefühl „Und plötzlich war alles anders und das Leben wurde auf den Kopf gestellt!“ geht fast jeder Pflege voraus und ist eine Belastung erster Güte. Für die Betroffenen eine Krise ungeahnten Ausmaßes. Schlimmer wird es noch, wenn auf Anhieb nichts funktioniert und man aus dem ‚Macher- und Improvisationsmodus‘ nicht mehr rauskommt. Wenn pflegende Menschen bis an den Rand ihrer Kräfte kommen, so wie derzeit viele unserer Pflegekräfte und medizinisches Personal dann sollte die Gemeinschaft greifen, das ‚wir‘ und das Miteinander.

Einsamkeit und Ausgegrenztheit war schon vor der Krise ein Thema

Vielleicht will uns diese Krise etwas mitteilen. Wir hatten schon in der ‚normalen Zeit‘ sehr viele alte, kranke und behinderte Menschen, die ausgegrenzt und einsam waren und teilweise deren pflegende Angehörige. Wir waren in unserer Gesellschaft doch schon sehr stark auf Besitz und uns selbst zentriert. Ich hoffe inständigst, dass die benachteiligten Menschen jetzt wieder in unser Bewusstsein rücken und wir auf sie und andere schwache Menschen aufmerksam werden. Gerade pflegende Menschen und ihre Schützlinge sind mit zunehmendem Krankheitsstatus stark isoliert und haben oftmals nichts anderes als das Telefon oder die sozialen Medien. Doch nun begreift die Mehrheit, dass uns diese Art der Kommunikation auf Dauer nicht glücklich macht und dass wir den engen Kontakt mit anderen Menschen benötigen.

Uns wird derzeit der Spiegel vorgehalten. Nehmen wir diese Situation als Chance, unser Denken, Handeln und Tun zu überdenken. Es muss nicht sein, dass Sie gleich alle Gewohnheiten oder Ansichten über Bord werfen. Wenn Sie auch nur das eine oder andere in Ihrem Leben ändern, gibt es ihm vielleicht eine neue Richtung.

Und wenn Sie gerade jetzt einen oder gar mehrere Menschen zuhause pflegen: Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen Kraft und Energie aber auch den Mut, Menschen um Hilfe zu bitten. Nehmen Sie sich irgendwann am Tag mindestens 15 Minuten eine Auszeit und sagen Sie nicht: „Das geht aber nicht!“ Es geht. Nehmen Sie Abstand von Perfektionismus und Rücksichtnahme auf alle anderen. Schätzen Sie sich selbst wert und delegieren Sie Aufgaben, die Ihnen Zeit und Nerven rauben. Seien Sie bereit, sich und Ihre Einstellung zu ändern. Das ist bereits der erste Schritt.

Bleiben Sie bitte alle gesund! Bis nächste Woche,

Ihre Waltraud Gehrig

 

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