Gesellschaft - Schriftsteller Robert Menasse erinnert an die Freiheiten der Europäischen Union und befürwortet es, die Reformpläne des französischen Staatschefs Emmanuel Macron zu diskutieren

„Man kann unsere Welt nicht mehr national gestalten“

Von 
Anne-Kathrin Jeschke
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Waren beide schon mal in Brüssel, haben sich hier aber in Den Haag getroffen: der Wiener Schriftsteller Robert Menasse und „MM“-Mitarbeiterin Anne-Kathrin Jeschke. © Bram Kleiweg

Für Buchpreisträger Robert Menasse ist die Europäische Union weiterhin ein großes Friedensprojekt. Skepsis kann er zwar nachvollziehen, nicht aber grundlegende Kritik an der Ursprungsidee. Im Interview betont der Autor: Die EU biete ihren Bürgern viele Chancen. Sie zwinge jedoch niemanden, diese auch zu nutzen.

Kulturkritischer Essayist

Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren und ist in der österreichischen Hauptstadt aufgewachsen.

Er studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und im italienischen Messina. 1980 promovierte Menasse über den „Typus des Außenseiters im Literaturbetrieb“.

Sechs Jahre lang arbeitete er daraufhin an der Universität São Paulo in Brasilien.

Der Literat und Essayist lebt heute überwiegend in Wien.

Menasse ist leidenschaftlicher Verfechter der Ursprungsidee der Europäischen Union. Damit setzt er sich nicht nur in seinem Brüssel- und EU-Roman „Die Hauptstadt“ auseinander, sondern auch in Essays.

In „Die Hauptstadt“ (Suhrkamp Verlag) gibt Robert Menasse dem komplexen Gebilde „Europäische Union“ ein menschliches Gesicht. Er verknüpft internationale Biografien miteinander, erzählt von Vergangenheit und Zukunft, von der Ursprungsidee und lähmender Bürokratie.

Das Werk wurde im Herbst mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Dazu die Jury: Im Roman ist „Zeitgenossenschaft literarisch so realisiert, dass sich Zeitgenossen im Werk wiedererkennen und Nachgeborene diese Zeit besser verstehen werden“. Bild: Rafaela Proell, Suhrkamp Verlag

Kein Hotelrestaurant, kein Café, lieber ein Wohnzimmer: Robert Menasse – auf Lesereise in den Niederlanden – lädt zum Gespräch in eine Privatwohnung. Der Schriftsteller sitzt am Laptop, raucht und schimpft auf lästige E-Mails. Um ihn herum antike Möbel, ein riesiger Blumenstrauß, Kunst. Gemütlich! Findet Robert Menasse auch. Aber viel wichtiger: Hier darf er rauchen. So viel Rebellion gegen den Zeitgeist muss doch noch möglich sein. Bei unzähligen Zigaretten diskutiert der österreichische – Pardon – Wiener Intellektuelle über Grenzen in Köpfen, das Abstraktum Brüssel und die Frage: Wohin gehst du, Europa?

Herr Menasse, ich muss Sie direkt mal anstacheln. Ich zitiere den Satz eines Moderators, über den Sie sich bei einer Lesung kürzlich spürbar geärgert haben: „Wir lieben dieses Brüssel nicht sehr.“

Robert Menasse: Oh ja! Dieser Satz! Er ist grammatikalisch so einfach. Aber wenn man darüber nachdenkt, ist er hoch kompliziert: Wer ist wir? Was versteht man unter „lieben“ in Hinblick auf ein politisches Projekt? Und was meint dieser Mann mit Brüssel? Wie ungerecht ist es, einer ganzen Stadt das Missfallen an einer Institution umzuhängen? Aber so denken viele Menschen.

Wieso neigen auch kluge Leute zu einer solchen Pauschalisierung?

Menasse: Brüssel erscheint als großes Abstraktum, als ein erratischer Block. Bei anderen Hauptstädten haben die Leute sofort ein Bild vor Augen und Vorstellungen vom Leben dort: Paris, Rom oder Wien. Aber bei Brüssel? Ist es nicht eigenartig? Brüssel hat kein Image, das konkrete Bilder hervorruft. Kaum jemand hat eine Ahnung, wie es dort aussieht, was da passiert – und wie die Entscheidungen zustande kommen, die sich auf unsere Leben auswirken. So ging es auch mir lange, obwohl ich ein politisch interessierter Mensch bin, der viel liest und die europäische Idee grundsätzlich befürwortet.

Sie haben dem großen Abstraktum Brüssel dann einen ganzen Roman – „Die Hauptstadt“ – gewidmet. Wie haben Sie sich ihm genähert?

Menasse: Ich habe mir dort eine Wohnung genommen und versucht, möglichst viele Beamte kennenzulernen. Einem sagte ich etwa: Erzählen Sie, wie schaut ein typischer Arbeitstag aus? Der Mann sagte: „Ich mache Ihnen einen Vorschlag – kommen Sie doch morgen um sieben zu mir ins Büro.“ Er machte eine Pause. „Ach, Sie sind ja Dichter, da werden Sie wohl erst um zehn kommen, Sie können bis halb acht bleiben. Schauen Sie mir über die Schulter.“ Ich muss zugeben: Ich bin wirklich erst um zehn gekommen und nur bis sechs geblieben. Ich habe gelernt, dass diese Institution, die uns immer so abgeschottet vorkommt, hochtransparent ist. Ich habe begriffen: Es liegt auch an uns, wir haben eine Holschuld.

Nun kann aber nicht jeder wie Sie für vier Jahre nach Brüssel ziehen, um die EU besser zu verstehen. Kürzlich forderte Sven Giegold, deutscher Europa-Abgeordneter der Grünen, im NDR-Medienmagazin Zapp einen öffentlich-rechtlichen Sender, der uns über die EU informiert.

Menasse: Ich habe schon mit Sven Giegold darüber diskutiert. Meiner Meinung nach brauchen wir kein neues europäisches Medium, sondern wir brauchen mehr Europäer in den Medien. Die Journalisten berichten zu oft durch die nationale Brille. Es ist Ratsgipfel, und die deutschen Zeitungen fragen: Was kostet uns das? Die Frage ist doch: Was bringt es für Europa? Wenn’s für die Deutschen gut ist, aber für alle anderen schlecht, dann ist es keine Europa-Politik.

Ist es nicht auch nachvollziehbar, dass Menschen wissen wollen, was Entscheidungen für sie bedeuten?

Menasse: Ich habe ein Haus an der österreichisch-tschechischen Grenze, wo viele sehr anti-europäisch eingestellt sind. Als der Eiserne Vorhang fiel, waren alle ganz euphorisch, weil die Freiheit gesiegt hatte. Aber dann sind plötzlich Tschechen herüber nach Österreich gekommen. Menschen aus einem anderen Land, mit einer anderen Sprache, die bilden plötzlich Schlangen im Supermarkt, nehmen Parkplätze weg und wollen – das Allerschlimmste – hier arbeiten. Also hat die Gewerkschaft gesagt: Wir schützen den nationalen Arbeitsmarkt.

War das etwa falsch?

Menasse: Das war ein Sündenfall. Denn jetzt war die nationale Zugehörigkeit wieder entscheidend. Menschen haben das Gefühl, sie verlieren etwas durch die Freiheit, die ihnen die EU garantiert. Warum wird Freiheit als Verlust empfunden? Das hat ganz tief sitzende historische Wurzeln. Selbst diejenigen, die vorher auf der freien Seite des Eisernen Vorhangs gelebt haben, bringen eine tiefe Sehnsucht mit nach einer Politik, die sie schützt, nach einem starken Mann, der Ordnung schafft. Dinge, die wir doch gehofft hatten, mit dem europäischen Friedensprojekt zu überwinden.

Aber finden Sie es nicht überheblich, wenn jemand Privilegiertes wie Sie die Ängste und Sorgen seiner Nachbarn nicht versteht?

Menasse: Auch ich hatte Engpässe, musste für meine Projekte mobil sein und das Land verlassen. Ich musste als freier Schriftsteller immer die Flexibilität beweisen, vor der sich diese Menschen fürchten und von der sie glauben, dass sie ihnen jetzt abverlangt wird. Das große Missverständnis ist meiner Meinung nach, dass sie vor etwas Angst haben, das einfach nur als Möglichkeit besteht. Als Chance, die sie nutzen können – aber doch nicht nutzen müssen. Sie wollen zum Teil jedoch nicht einmal, dass es diese Möglichkeit überhaupt gibt.

Die Zahl der EU-Gegner wächst jedenfalls – und in vielen Ländern bekommen die rechtspopulistischen Parteien auch deswegen enormen Zulauf.

Menasse: Das muss man – noch nicht – dramatisieren. Natürlich: Besorgniserregend ist es schon, ich möchte jetzt gerade nicht unbedingt ein kritischer ungarischer Intellektueller sein. Und wenn die Visegrád-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Anm. d. Red.) weiterhin den Rechtsstaat abbauen, wird das zu größeren Krisen in der EU führen. Aber die Rechtspopulisten haben nirgendwo sonst auch nur annähernd eine Mehrheit.

Aber eine EU-Skepsis in großen Teilen der Bevölkerung können Sie nicht verleugnen.

Menasse: Da müssen wir natürlich genauer hinschauen: Was ist der Grund dafür? Ich kann die Skepsis ja gut nachvollziehen, aus dem einfachen Grund, dass wirklich vieles nicht funktioniert. Die entscheidende Frage ist aber: Stimme ich grundsätzlich der europäischen Idee zu? Dann kann Kritik ja sehr produktiv sein. Klar ist: Kein Problem, mit dem wir konfrontiert sind, kann auf Nationalstaatenebene gelöst werden. Man kann unsere Welt, in der alle Phänomene transnational verlaufen, nicht mehr national gestalten.

Ein gemeinsamer Haushalt, die Annäherung der Sozialmodelle, eine gemeinsame Asyl-Behörde: Wie gefallen Ihnen die EU-Reformpläne des französischen Staatschefs Emmanuel Macron?

Menasse: Vieles von dem, was er vorgeschlagen hat, ist seit 15 oder 20 Jahren immer wieder von der EU-Kommission erarbeitet – und von den Mitgliedstaaten abgelehnt worden. Schon lange vor der Euro-Einführung hat die Kommission darauf hingewiesen, dass eine gemeinsame Währung auch eine gemeinsame Finanzpolitik braucht. Das haben die Staaten abgelehnt – was folgte, war die Finanzkrise. Man muss über Macrons Vorschläge sprechen. Wir können nicht gleich morgen einen Finanzminister der Eurozone einführen, aber wir müssen endlich anfangen, darüber zu diskutieren.

Was bedeutet „mehr Europa“ außerdem für Sie?

Menasse: Es braucht eine Fiskalunion, dann gibt es keine Debatte mehr darüber, welche Vorteile es hat, Europäer zu sein. Warum soll ein europäischer Bürger, nur weil er in Griechenland lebt, schlechteren Zugang zu Altersvorsorge oder Bildung haben als ein europäischer Bürger, der in Deutschland wohnt?

Das ist aus Sicht vieler deutscher Politiker kaum durchsetzbar.

Menasse: Aus der Sicht feiger und opportunistischer Politiker, ja! Die glauben, wenn der Zeitgeist nach rechts schwingt, dass sie sich als Verteidiger der Nation aufspielen müssen, damit sie national wieder gewählt werden. Haben Sie Jens Spahns Beitrag in der „Welt“ gelesen? Seine Botschaft ist in etwa, über keinen von Macrons Vorschlägen auch nur nachzudenken. Die alte Europa-Partei CDU ist zu einer national-liberalen Partei geworden. Das wird in den nächsten Jahren große Probleme bringen.

Was befürchten Sie?

Menasse: In dem Maß, in dem die Volksparteien nach rechts driften, um Wähler vom Rand zurückzuholen, fühlen sich immer mehr Menschen darin bestätigt, dass die Rechten recht hatten. Wenn ich die Wahl habe, jemandem zu glauben, der seine Meinung ändert, oder dem, der etwas immer schon gesagt hat, dann vertraue ich doch dem, der das schon immer so gesehen hat. Das ist ja der Grund, warum die Renationalisierungstendenz so stark ist: Sie wird von der Mitte angeschoben.

In Ihrem Roman gehen auch Sie nicht gerade zimperlich mit der EU um. Dabei stehen vor allem nationale Interessen der gemeinsamen Sache im Weg.

Menasse: Das ist eine Systemfrage. Diejenigen, die in der EU entscheiden – die also Europapolitik machen sollten –, das sind die Staats- und Regierungschefs im Rat. Und die wissen, dass sie nur national gewählt werden. Niemand stimmt für einen Staatschef, weil er sagt: „Ich glaube, der wäre europapolitisch am vernünftigsten.“ Der Kandidat weiß also, dass er den Wählern so etwas wie die Verteidigung der nationalen Interessen bieten muss.

Nationalismus und auch nationale Identität sind Ihnen zuwider. Ihr Wunsch wäre demnach, dass ich mich nicht als Deutsche, sondern als Europäerin bezeichne?

Menasse: Ich will nicht, dass Sie sich so bezeichnen. Ich wünsche mir, dass Sie sich so fühlen. Schauen Sie: Ich bin in der deutschen Philosophie-, Literatur- und Kulturgeschichte ausgebildet. Ich kenne mich mit Hegel oder der Weimarer Klassik viel besser aus als mit österreichischer Philosophiegeschichte. Gibt es die überhaupt? Im Sinne der Kultur bin ich Deutscher, aber ich bin kein Passdeutscher. Identitätsstiftend ist doch der Ort, an dem man aufwächst und sozialisiert wird. Und dazu kommt noch, was einen geprägt hat – so wie mich die deutsche Kultur- und Literaturgeschichte.

Also sind Sie Wiener?

Menasse: Ja. Denn wenn ich sage, ich bin Österreicher, dann sage ich gleichzeitig, dass ich eine große gemeinsame Schnittmenge mit einem Tiroler Bergbauern habe. Die habe ich aber nicht. Deswegen: Wiener. Auch Niederösterreicher, weil das das Umland Wiens ist, wo ich in meiner Kindheit viel Zeit verbracht habe und ein kleines Haus besitze. Aber Alpenrepublik? Ich habe nichts mit den Alpen zu tun. Und jemand in Passau weiß doch nicht annähernd, wie ein Hamburger tickt, oder? Da gibt es mehr Gemeinsamkeiten mit einem Oberösterreicher. Das nationale Identitätskonzept hat nie funktioniert. Es ist ein Konstrukt. Und doch nehmen manche Menschen es als konkret wahr. Und die konkreten Freiheiten – das Friedensprojekt Europa – empfinden sie als abstrakt.

Freie Autorin Seit 2014 freie Journalistin in Mannheim. Davor: Journalistik-Studium in Leipzig, Volontariat beim "Mannheimer Morgen", Redakteurin beim "MM" und beim "Öko-Test-Verlag" in Frankfurt.

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