Analyse - Vor 69 Jahren trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft / Das Karlsruher Bundesverfassungsgericht ist seitdem mit rund 232 000 Verfahren konfrontiert worden

Wie steht es um unsere Verfassung?

Von 
Dirk Lübke
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Bürgerinitiativen, Politiker, Demonstranten, Querulanten, Gleichgültige – sie alle haben etwas mit unserem Grundgesetz zu tun. Unsere Verfassung regelt und entwickelt unser Zusammenleben in Freiheit. Wo stehen wir, was läuft gut, wo sollten wir wachsam sein?

Es gab dieses Heftchen, nicht viel größer als ein Brillenetui oder ein mobiles Telefon. „GG“ stand darauf. Die Buchstaben stehen für unser Grundgesetz. Wir mussten es in den 1970er Jahren für die Schule kaufen.

Es war diese Zeit, als ein gewisser Abdullah Öcalan in Deutschland auf Marktplätzen für ein freies Kurdistan und für die terroristische PKK warb. Versammlungs- und Demonstrationsrecht eben. Oder als ein gewisser Franz-Josef Strauß für die CDU/CSU Bundeskanzler werden wollte und wir seine Wahlplakate nachts heimlich deformierten. Wahlrecht und Strafrecht eben. Oder als der gebürtige Mannheimer und Ministerpräsident Baden-Württembergs, der Christdemokrat Hans Karl Filbinger, zurücktreten musste. Er hatte als Mitglied der Nazi-Partei NSDAP und als Marinerichter 1943 und 1945 in der deutschen Diktatur Todesurteile beantragt oder gefällt. Unrecht eben.

Keine Sorge, liebe Leser, dies wird nicht eine lange Geschichte der Vergangenheits-Verklärung à la „Früher war alles ...“. Sondern das ist ein Plädoyer für die Werte und den Wert unseres Grundgesetzes. Gestern vor 69 Jahren ist es verabschiedet worden, heute vor 69 Jahren in Kraft getreten. In welcher Verfassung ist unsere Verfassung? In welcher Verfassung sind Nutzer oder User dieses Grundgesetzes – also wir?

Fangen wir an im Kleinen – im Nebeneinander, Gegeneinander, Miteinander. Manche Menschen wollen ohne Mandat bei vielem mitreden und mit entscheiden, aber nichts verantworten. Andere wollen nur ihre Ruhe haben. Diese Zeitung hat vor mehreren Monaten einmal die Anzahl der Bürgerinitiativen (BIs) Mannheims und ihr wichtiges Tun aufgezählt; es kamen etwa 30 heraus. Wir können also davon ausgehen, dass es in Deutschland eher Zehntausende dieser BIs gibt. Die BI ist so etwas wie die kleinste außerparlamentarische Zelle. Sie gibt sich ihr Mandat selber – für etwas, gegen etwas. So schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), dass BIs „mehrfache Bauunterbrechungen und modifizierte Entscheidungsverfahren etwa im Falle der Kernkraftwerke Wyhl, Kalkar und Brokdorf“ erwirkt hätten. Auch vor unserer Haustür haben sich immer wieder Initiativen gefunden: Eine versuchte etwa mit Naturschutzargumenten vor mehr als zehn Jahren, den Bau der SAP-Arena in Mannheim zu verhindern, ein anderer Zusammenschluss kämpft aktuell als „SOS Stadtbaum“ gegen Fällungen im Mannheimer Stadtgebiet.

Das alles zeigt, dass Menschen sich einmischen, etwas bewegen, ändern, verbessern wollen. Für sich und für alle. Die Erfolgsaussichten einer BI, schreibt die BpB, „sind nach wie vor am größten, wenn sie im überschaubaren Kommunalbereich kurzfristig erreichbare und möglichst konkrete Einzelziele verfolgt“.

Im Grundgesetz sind sie nicht direkt ausgewiesen, die BIs. Sie finden sich aber weit vorn – in Artikel 5 zur Meinungs- und Pressefreiheit und in Artikel 8 zur Versammlungsfreiheit. Demokratieverständnis – auch das von Bürgerinitiativen – setzt allerdings voraus, dass demokratische Prozesse wie Bürgerentscheide auch als solche akzeptiert und respektiert werden. Mehrheitliche Abstimmungen in demokratisch verfassten Staaten wie unserem bedeuten eben auch, verlieren können zu müssen.

Spätestens jetzt kommen „die da oben“ ins Spiel. So werden zunehmend Politiker klassifiziert, abqualifiziert, diffamiert. Es wird so getan, als würden Mandatsträger – egal ob im Bundestag oder in einem Gemeindeparlament – vor allem im Sinn haben, ihren Reichtum zu mehren, sich nur für ihre Belange einzusetzen. Spaltende Begriffe wie „politische Klasse“ werden in den öffentlichen Sprachgebrauch gedrückt. Verstehen Sie das nicht falsch bitte: Dies ist kein Persilschein für politische Faulpelze, Taschenspieler, Opportunisten, Egoisten. Dies ist eine Aufforderung, wieder mehr wertschätzend mit dem ganz, ganz überwiegenden Teil von „denen da oben“ umzugehen, die sich in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Sie hauen sich – oft abends – viel Zeit um die Ohren. Ruhm, Ehre und Reichtum sind in aller Regel nicht die Ernte, die sie einfahren.

Wir alle sollten Politiker wieder mehr stützen, mehr wertschätzen, ihnen mehr vertrauen und mehr zutrauen – auch damit eine Idee eine Chance hat und nicht im emotionalisierten Gezeter gleich wieder untergeht. Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat es bei einer Rede im Mannheimer Nationaltheater Ende April so gesagt: „Liberal ist eine Gesellschaft nur, wenn es die Einsicht gibt und durchgesetzt wird, dass es ein Mindestmaß an Verbindlichkeiten gibt, das die Voraussetzung der Möglichkeit von Freiheit ist.“

Wer von denen, die eher abwertend über „die da oben“ reden, ist bereit, sich mit teils hochkomplexen Themen zu befassen? Sich hineinzudenken? Entscheidungen zu treffen? Seine Freizeit an vielen Abenden im kommunalpolitischen Bereich zu opfern? Mit wenig Aussicht auf Anerkennung und viel Aussicht auf Besserwisserei, Beschimpfung oder sogar Bedrohung? Eine kommunale Entscheidung über einen Krankenhaus-Ausbau, für eine Straße oder eine Kita, gegen ein Einkaufszentrum, für ein Parkhaus, für Radwege, für Videoüberwachung in einer Stadt ist vielschichtiger als die Entscheidung, wer das nächste Sechserpack aus dem Kühlschrank holt. Wir haben viele Möglichkeiten, uns aktiv zu beteiligen – eben nicht nur in der Politik als ehrenamtlicher oder bezahlter Mandatsträger oder in BIs.

Es gibt – wenn auch in Baden-Württemberg seit Ende 2015 und damit weitaus später als in allen anderen Bundesländern – ein Informationsfreiheitsgesetz (IFG). Damit kann sich der Bürger Informationen zu Sachverhalten holen, kann sie einfordern durch Anfragen, die nach einem Monat beantwortet sein müssen. Ämter müssen in den meisten Fällen darauf reagieren. Ausgenommen sind – meist wegen des Datenschutzes – das Landesamt für Verfassungsschutz, Hochschulen, die Landesbank, Sparkassen, Handelskammern. Zugang zu Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen darf nur gewährt werden, wenn die betroffene Person eingewilligt hat. In der Summe bleibt: Das IFG schafft ein Grundrecht zur öffentlichen Einsicht in Dokumente und Akten der öffentlichen Verwaltung.

Schweden hatte so etwas ähnliches schon 1766 eingeführt, Finnland 1951, die USA 1966, die Schweiz 2004, Deutschland mit einem Bundes-IFG im Jahre 2006. Das ist Demokratie pur, wenn auch mühevoll, beschwerlich und gelegentlich mit Umwegen verknüpft.

Doch lassen Sie uns vom sehr wichtigen Kleinen ins Große kommen. Unsere Verfassung ist aktuell großen Herausforderungen ausgesetzt. Beispiele? Da wäre zum einen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), jenes Gesetz aus dem Oktober 2017, mit dem der Bundestag die Bürger in den sozialen Medien wie Facebook oder Twitter vor Hass-Botschaften schützen will, indem die Betreiber löschen können oder sollen. Die „Hannoversche Allgemeine“ schrieb dazu: „Es ist eine beunruhigende Fehlentwicklung, wenn private Plattformen wie Facebook zu entscheiden haben, was richtig und was falsch ist – und aus Sorge vor hohen Geldstrafen im vorauseilenden Gehorsam unbequeme Debatten löschen. Europa und speziell Deutschland mit seiner schrecklich langen Geschichte an Diktaturen, Chefideologen und staatlichen Propagandaministern sollten es eigentlich besser wissen: Der beste Schutz gegen Desinformation ist unabhängiger Journalismus. Gerät die Presse- und Meinungsfreiheit unter Druck, steht es erfahrungsgemäß auch um andere Grundrechte nicht gut.“

Was ist die Alternative? Den Staat bei Hass-Botschaften in die Pflicht nehmen, im Netz Straftatbestände wie Volksverhetzung, Verleumdung, üble Nachrede zu verfolgen? Brauchen wir eine Netz-Polizei, eine Cyber-Polizei? Wie soll das gehen, wer will das organisieren, verantworten und bezahlen? Es gibt keine einfache Lösung – aber bessere als das NetzDG, denn damit gibt der Staat aktuell die Bewertung von Grundrechten wie Meinungsfreiheit in die Hände von Privatfirmen.

Zum anderen lohnt ein kritischer Blick nach Bayern. Dort wurde vor wenigen Tagen – möglicherweise auch vor dem Hintergrund der im Herbst anstehenden Landtagswahl – das vermutlich härteste Polizeiaufgabengesetz in Deutschland geschaffen. Angeblich ist es eine Blaupause auch für andere Bundesländer. Im Kern sollen Polizisten schon bei „drohender Gefahr“ statt wie bisher bei „konkreter Gefahr“ eingreifen können, also früher und schneller als zuvor. Auch sollen Erbmerkmale, also DNA-Spuren wie die Untersuchung von Geschlecht, Augen-, Haut- und Haarfarbe, Alter und Herkunft, den „Kreis der potenziellen Gefährder eingrenzen“. Kritiker sagen, dass die Polizei zu Zwecken der Gefahrenabwehr in die Gene „hineinschauen“ dürfe.

Das NetzDG und das bayerische Polizeiaufgabengesetz sind zwei aktuelle Beispiele, in denen Freiheit und Sicherheit um ihren Anteil kämpfen. Was wie viel bekommt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG), unserem höchsten Gericht für Verfassungsfragen, zu klären sein. Von 1951 bis Ende 2017 hat das BVerfG in Karlsruhe etwa 232 000 Verfahren vorgelegt bekommen, davon 228 000 erledigt; die meisten Fälle – etwa 96 Prozent – waren Verfassungsbeschwerden wie sie sich jetzt auch beim NetzDG und beim Polizeiaufgabengesetz abzeichnen.

Unsere Verfassung ist also seit Jahrzehnten einer munteren Überprüfung ausgesetzt – in den 1950ern gering, seit einiger Zeit mit rund 6000 Verfahren pro Jahr deutlich stärker. Wir scheinen mit unserem Grundgesetz in einer guten Verfassung, zumal Verfassungen nicht fix sind, sich entwickeln, fortschreiben, geänderten Erfordernissen anpassen. Und doch rüttelt und ruckelt es an einigen Stellen. In einem Heft der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) vom Januar 2018 schreibt Ernst Hillebrand von einer „neuen Spaltung der westlichen Gesellschaften“ und unterscheidet dabei „öffnungsfreudige Kosmopoliten“ und „nationalstaatsorientierte Kommunitaristen“. Der FES-Mann geht in seiner Analyse so weit zu sagen: „Die Frage nach der Rolle des Nationalstaates hat das Potenzial, einer der bestimmenden politischen Großkonflikte der nächsten Jahrzehnte zu werden.“ Der Nationalstaat und sein Zustand müssen herhalten für vieles, was angeblich in Unordnung geraten ist. An diesen Stellen stochern die AfD und andere mit radikalem Hintergrund gern herum. Die Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Alice Weidel, geiferte am 16. Mai im Deutschen Bundestag und sagte im Stile einer Reichsreferentin solche Sätze wie: „Burkas, Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern.“ Es sind Sätze, die unser höchstes Haus der deutschen Demokratie aushalten wird – auch wenn es sehr weh tut. Solche Formulierungen sind zersetzend, hetzend und spaltend. Glücklicherweise weist Artikel 1 des Grundgesetzes die Scharfmacherin Weidel in die Schranken, denn: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ein Grundrecht, das nicht gedankenlos an die erste Stelle unseres Grundgesetzes kam – und mit solchen Ausfällen schamlos traktiert wird.

Natürlich ist der Bundestag ein Ort für scharfe Wortgefechte. Der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer von den Grünen hat in seinen jüngeren Jahren den Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen 1984 mit den Worten „Mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch, Herr Präsident“ bedacht. Fürwahr nicht freundlich, ungezogen, respektlos – aber eben mit offenem Visier. AfD-Frau Weidel macht Menschen nieder, die sich ohnehin nicht wehren können. Darin liegt ein gravierender Unterschied – vielleicht auch ein Unterschied in Diskussionen von heute und damals.

„Hauptmerkmal des Populismus ist Antipluralismus im Namen des Volkes“, schreibt der deutsche Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller im Januar 2018 in einem Aufsatz mit dem Titel „Guten Populismus gibt es nicht“. Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, Professoren für Regierungslehre an der Universität Harvard, bringen Ende Mai ein Buch mit dem Titel „Wie Demokratien sterben“ heraus. Darin heißt es etwa: „Demokratien sterben mit einem Knall oder mit einem Wimmern (...). Doch das Dahinsiechen einer Demokratie, das Sterben mit einem Wimmern, ist alltäglicher – und gefährlicher, weil die Bürger meist erst aufwachen, wenn es zu spät ist.“

Ob wir so weit sind? Nein, das sind wir nicht. Es ist allerdings seltsam leise und konformistisch an den Orten und Stellen, an denen Demokratie, ihre Weiterentwicklung und Festigung sich deutlich bemerkbar machen könnten. Wo sind sie, die Universitäten mit Professoren und Studenten, die Schulen mit Lehrern, die Gewerkschaften? Wo sind sie, die Diskutierer, die sich mit These, Antithese und Synthese befassen? Wo also ein Sachverhalt mit Pro und Contra beleuchtet wird, wo Beispiele, Vorschläge, Tatsachen in die Diskussion gebracht werden?

Es wäre zu schön, wenn wir mal wieder eine Demonstration mit Hundertausenden auf den Straßen Deutschlands hätten – für etwas. Für unsere Demokratie, für unser Grundgesetz, für unsere Freiheit, für unsere Werte, für Europa, für unsere Errungenschaften. In einem Jahr wird unser Grundgesetz 70.

Info: Zum Grundgesetz: http://goo.gl/9ujE6z, zur BpB: http://goo.gl/NJorS3, zu den Jahrestatistiken des Bundesverfassunsgerichts: http://goo.gl/n1vfGo 

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