Gesellschaft - Die Voraussetzungen seines Handelns kann ein freier Staat nicht garantieren / Ein interessanter Lehrsatz und seine Folgen Appell an freiheitlich gesinnte Menschen

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Zu Beginn der 1960er Jahre schien die Welt der deutschen Christen noch in Ordnung. In den Gemeinden hatten beide Konfessionen ihre Pfarrer. Und die Katholiken einen oder zwei Kapläne, also zwölf Priester in und um Schwetzingen. Heute sind es vier. In Rom hatte Papst Paul VI. gerade das zweite Vatikanische Konzil beendet, in dem sich die Bischöfe, wie zuvor ihre evangelischen Mitbrüder, zur Freiheit des Glaubens bekannt hatten. Damit begann eine Zeit der Kooperation.

1964 veröffentlichte der katholische Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde die Erkenntnis: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Sie gilt heute als „Böckenförde-Theorem“, als ein „bewiesener Lehrsatz“.

Nun sind aber Aussagen zur Welt des Glaubens weit weniger verlässlich als die Definition des spezifischen Gewichts im „Theorem des Archimedes“. Beweisen lassen sie sich allenfalls indirekt und negativ. Zum Ersten dadurch, dass Bürger im Konsens und aus freien Stücken das dreifache Gebot der katholischen Arbeiterjugend übernehmen: Sehen, was der Staat braucht, es richtig beurteilen und entsprechend handeln. Den negativen Beweis würden totalitäre Staaten liefern.

Ein Konsens, das Zusammenwirken der Einzelnen im Sinn und Interesse aller, beruht also auf Freiwilligkeit. Sie lässt sich nicht befehlen. Politiker können jedoch, durch vorbildhaftes Tun, die Bürger überzeugen mitzutun. Etwa mit der Erhaltung des Friedens und der Umwelt.

Nach bösen Irrwegen leben alle Deutschen seit über 30 Jahren in einem freiheitlichen Gemeinwesen. Niemand aber wird behaupten, dass unser Staat seine Bürger für die eigene Politik gewonnen hat. Das gelang nie – mit einer Ausnahme, der Flüchtlingspolitik 2015. In diesem Herbst ließen sich Hunderttausende von dem Optimismus des „Wir schaffen es“ der Kanzlerin anstecken, das eine sofortige Aktion forderte. Sie erfolgte, kostete aber einen hohen und sofort zu entrichtenden Preis. Der wäre wahrscheinlich auch später gefordert worden: die innere Spaltung vor allem in der doppelt betrogenen ehemaligen DDR.

Nachdem im Osten rechte Kräfte die Demokratie mehrfach in Frage gestellt hatten, steht seit 2015 der politische Konsens auf dem Spiel. Die AfD gewann im Herbst 2019 fast ein Drittel der Sitze in den Landtagen und kündigte den demokratischen Parteien an: „Wir kommen.“ So wie einst die Hitlerjugend johlte: „Denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.“

Es ist offenkundig: Deutschland verliert derzeit seine innere Stabilität. An Beweisen dafür mangelt es nicht: Am 22. Januar strahlte Phönix eine Doku aus, die wachrütteln sollte und viele erschreckt hat: „Hass und Hetze gegen Politiker.“

Bürgermeister und Abgeordnete beklagten Angriffe, denen sie ausgesetzt waren. Die meisten forderten mehr Polizei und Gesetze. Gleichzeitig sprachen alle von einer allgemeinen Verrohung. Den Zusammenhang stellte aber niemand her. Drei Tage später erklärte der stellvertretende Vorsitzende der Polizeigewerkschaft: „Der Umgang von Hass und Gewalt in unserer Gesellschaft hat zugenommen.“ Böckenfördes Theorem scheint sich zu bestätigen. Der freiheitliche Staat ist überfordert. Wenn er allein bleibt, und wenn ihm die Bürger, die Familien und vor allem die Kirchen nicht zu Hilfe kommen. Wann aber reagieren die Demokraten? Warten sie darauf, dass die Rechten ihre eigene, heute durch das Internet verstärkte, Brutalität nutzen, um sich als Hüter von Recht und Ordnung aufzuspielen?

Helmut Mehrer, Brühl