Die Erinnerung ist eingraviert

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Es ist über 75 Jahre her, da hat ein Vater seinem Kind ein Tagebuch auf den Geburtstagstisch gelegt. Das Mädchen hieß Anne Frank und ihr Tagebuch sollte zum meistgelesenen der Welt werden. Vor einiger Zeit habe ich es gesehen. Das Tagebuch hat karierte Streifen und liegt in einer Vitrine im Anne-Frank-Haus in Amsterdam. Im Hinterhaus, da, wo die Familie Frank sich vor den Nazis versteckt hielt. Zwei Jahre waren sie dort, jeden Tag in der Angst, gefunden zu werden. Eine Denunziation verriet das Versteck. Anne und ihre Familie wurden deportiert. Nur Annes Vater kehrte zurück.

Alle anderen, die sich im Hinterhaus versteckt hatten, wurden ermordet. Ich musste lange anstehen, um in das Anne-Frank-Haus zu kommen. Vor mir stand ein älteres Ehepaar aus Spanien, das Tee aus einer Thermoskanne mit mir teilte. Hinter mir stand ein Mann aus Japan mit seiner Tochter, die etwa so alt gewesen ist wie Anne es war, als sie ins Hinterhaus kam. Die Schlange der Wartenden ging einmal um die Westerkerk herum, auf deren Glocken Anne gern gehört hat.

Anstrengend und tröstlich

Es war anstrengend und doch auch tröstlich, lange in dieser Schlange zu stehen, und zu sehen, wie viele andere es auch tun. Zwei Stunden im Regen stehen, um durch die kleinen und engen Zimmer zu gehen, die zwei Jahre Zuflucht waren, und das Tagebuch zu sehen. In wenigen Tagen wird es 80 Jahre her sein, dass in unserem Land die Synagogen brannten und Lauf nahm, was Anne und ihre Familie ins Versteck trieb und ihnen schließlich das Leben raubte.

Das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung, diesen Satz hören wir auf vielen Gedenkfeiern. Vor der Vitrine mit Annes Tagebuch wird dieser gute Gedanke mir fremd. Es gibt Erfahrungen, die werden nicht mehr gut. Es gibt Erinnerungen, für die gibt es keine Erlösung. Wir haben diese Erinnerungen in unsere Ge-schichte eingraviert, wenn wir an vielen Orten Badens am 22. Oktober, dem Jahrestag der Deportation, die Namen der Menschen verlesen, die deportiert worden sind. Sie kommen zu uns aus dem Dunkel, wenn wir am 9. November an den Orten stehen, an denen die Synagogen brannten.

Die Träume geraubt

Im Anne-Frank-Haus habe ich Gedanken der britischen Schauspielerin Emma Thompson über Anne Frank gelesen: „The only thing we have to remember is: all her would-haves are our real possibilities. All her would-haves are our opportunities.“ Also übersetzt: „Das, woran wir uns wirklich erinnern müssen, ist: alles, was sie getan hätte und nicht tun konnte, sind für uns wirkliche Lebensmöglichkeiten.“

Was Anne sich erhofft hat, wovon sie träumte und was ihr versperrt und geraubt wurde, können wir leben, weiter hoffen und weiter träumen. Die Verunmöglichung von Annes Leben, ihre zerschellten Träume, geben uns einen Auftrag: die Erinnerung festhalten und das Gute tun. Die Erinnerung vermag nicht zu heilen. Die Erinnerung kann nicht erlösen. Aber sie kann eine Kraft sein, aus der Menschen sich gegen das Vergessen wehren, gegen Verharmlosung und gegen die Lügen. Erinnerung erzählt Kindern und Jugendlichen Geschichten über das, was einmal war und was Frieden ist. Erinnerungen ermutigen zu einem Leben, das sich einsetzt. Erinnerungen sind die Wurzeln, die die Mitmenschlichkeit nähren und am Leben halten. Sie verbinden uns mit Gott, der ewiges Gedächtnis ist in vergesslicher Zeit.

Monika Lehmann-Etzelmüller,

Peterskirche Weinheim

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