Falsche Debatten - Bürger brauchen keine Belehrungen Eine ganz normale Ausgabe

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Haben Sie noch die Ausgabe unserer Zeitung vom Donnerstag, 2. August? Wahrscheinlich nicht, denn Spektakuläres gab es an diesem Tag eigentlich nicht zu berichten. Interessant ist sie trotzdem – aber aus einem ganz anderen Grund.

Lautstark haben sich in den letzten Wochen vermehrt Kritiker zu Wort gemeldet. Etwa auch Werner Kolhoff, ein Kommentator des Mannheimer Morgen, der auch die überregionale Berichterstattung für die SZ liefert. Sie klagen an, dass in Deutschland die „falschen Debatten“ geführt würden. Nicht Themen wie Flüchtlinge, Migration oder der Islam gehörten in den Vordergrund, sondern Rente, Pflege, Altersarmut, unbezahlbare Mieten oder der Klimawandel. Nun sprechen die Leute aber hauptsächlich über das, was ihnen über die Medien und selbstverständlich auch über ihre Tageszeitungen angeboten wird.

An besagtem 2. August sah es so aus: Mitten auf der Titelseite ein Dreispalter mit der Überschrift „Fast jeder Vierte hat ausländische Wurzeln“. Mit 19,3 Millionen Menschen haben 23,6 Prozent der hier lebenden Menschen einen Migrationshintergrund. Auf Seite 2 zieht Martin Geiger in seinem Kommentar „Bunte Republik“ ein für den Innenminister desaströses Resümee: „Pfui Teufel, Herr Seehofer, statt Ankerzentren brauchen wir Sprachkurse!“ Vierspaltig unmittelbar daneben: „Ohne Migranten könnten wir keine Häuser mehr bauen“. Experten befinden darin, dass Deutschland nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht von Menschen mit ausländischen Wurzeln profitiert. Und auf derselben Seite: „Masterplan im Gegenwind“ – in Bayern warnen Flüchtlingshelfer und die Opposition vor einer „Ghettoisierung“.

Die Seite 3 bietet: „Schüsse und Gewalt“ – dreispaltig mit Bild. Angriffe auf Ausländer, diesmal in Italien. Der dortige Innenminister Salvini fährt einen knallharten Kurs gegen Flüchtlinge. Offensichtlich mit „mehr Erfolg“ als sein deutscher Kollege: 72 Prozent der Italiener finden das gut. Und gleich darunter passend: Der umstrittene Einsatz der „Aquarius“, ein Schiff, das auf dem Mittelmeer von Schleppern mit Menschen bestückte Nussschalen aufsammelt, um diese vor dem sicheren Tod zu retten.

Die Flucht des Lesers ins Lokale oder den Sport hilft nicht weiter. Auch dort Zahlen und Schlagzeilen, die im großen Kontext zu stehen scheinen: In Hockenheim gibt es jetzt 530 Flüchtlinge, die in einer Erst- und Anschlussunterbringung wohnen. 530 Schicksale, mit denen die Kommune fertig werden muss. Und im Sportteil schließlich kommt der Bayern-Boss zu Wort: „Rummenigge keilt gegen Özil und den DFB.“ Eine Rassismus-Debatte, losgetreten von einem Fußballer mit türkischen Wurzeln. War’s das dann am 2. August? Fehlt da nicht was? Doch. Die gerade tags zuvor in Kraft getretene Neuregelung des Familiennachzugs für Flüchtlinge zum Beispiel. Oder die neue Fluchtroute aus Afrika über Spanien. Ziel der meisten: Deutschland. Auch darüber debattieren die Menschen kontrovers und schreiben die Zeitungen. Wenn nicht am 2. August, dann eben ein oder zwei Tage später.

Doch jetzt zur eigentlichen Frage. Wenn die Leute darüber reden: Sind das alles „falsche Debatten“? Nein. „Falsche Debatten“ können nicht geführt werden und falsch kann es erst recht nicht sein, wenn Zeitungen darüber schreiben. Aber es gibt eine – freilich unausgesprochene – Sorge der Kritiker. Ist es richtig: Je mehr über etwas geschrieben wird, desto stärker könnte es denen zu Gute kommen, die man eigentlich bekämpfen will? Etwa der AfD, die im neuesten Deutschlandtrend auf 17 Prozent geklettert ist? Schon möglich. Betreibt unsere Zeitung dann mit einer Ausgabe wie am 2. August das Geschäft der Populisten? Eine absurde Vorstellung.

Genauso absurd allerdings wie der Vorhalt der Kritiker, die Bürger sollten keine „falschen Debatten“ führen. Die wissen nämlich genau, welche Debatten richtig und falsch sind. Sie brauchen keine Belehrung.

Rudolf Berger, Hockenheim