Ratlos und fast widerwillig verfolgen viele von uns die Übertragungen aus dem englischen Unterhaus. „Mutter aller Parlamente“ wird es oft genannt. Vorbildlich aber ist es derzeit nicht. Um das Geschrei und Gezerre, die Listen und Lügen in der Brexit-Debatte mehr als eine Minute zu ertragen, muss man schon ziemlich gefühllos sein. Oder überheblich. Wer ehrlich am Schicksal Englands und Europas Anteil nimmt, ist enttäuscht von dem, was sich die Remain- und die Leave-Gruppe in Westminster antun.
Versuchen wir, uns in die Seelenlage der Parlamentarier zu versetzen, fallen uns zerbrochene, nicht mehr kittbare Freundschaften und Scheidungen ein, die wir aus der Nähe oder Ferne miterlebt haben.
Da fallen Ehepaare, denen Anziehung und Liebe abhandenkommen und deren gegenseitige Abstoßung wächst – von außen – urplötzlich ihrer inneren Zerrissenheit zum Opfer. Von dem Drittel der Ehen, die in Deutschland geschieden werden, erlebt ein hoher Anteil ähnlich abstoßende Gefühlsausbrüche wie die Abgeordneten in London.
Gegenseitige Verletzungen, Zorn und Hass herrschen vor. Unglücklich aber sind sie alle. „Rosenkriege“ eben. Und woher stammt dieser Begriff? Aus England. Ein Zufall? Vielleicht. Nachdem Britannien Mitte des 15. Jahrhunderts den 100-jährigen Krieg mit Frankreich überstanden hatte, stürzten sich zwei Adelshäuser in einen „Rosenkrieg“ genannten 30-jährigen Konflikt: Lancaster und York löschten sich gegenseitig aus.
Das sollte eine ernste Mahnung an uns alle sein! Nicht nur für die, die im Begriff sind, eine Freundschaft oder ihre Ehe aufzugeben, sondern auch für Abgeordnete, die einander ohne Zurückhaltung und Stil verhöhnen. Aber auch wir Bürger, die Zeugen solcher emotionalen Entgleisungen werden, sollten uns warnen lassen.
Situationen dieser Art entstehen selten aus dem Nichts. Nach aller Erfahrung haben Augenblicke, in denen wir unser Gleichgewicht verlieren, eine Vorgeschichte. Herauszufinden, wann die Entfremdung begann und man nicht mehr die Kraft hatte gegenzusteuern, dürfte die meisten Scheidungskandidaten überfordern.
Beim Brexit, derzeit vor allem dem Streit um Irland, haben wir Hinweise. Bis vor 100 Jahren war die gesamte „grüne Insel“ Teil Großbritanniens. Doch nach dem Ersten Weltkrieg, Ende Januar 1919, forderten die Iren ihre Unabhängigkeit. im Zeichen des von Präsident Wilson verkündeten Selbstbestimmungsrechts der Völker. Es folgte ein für die Christenheit betrüblicher Konflikt zwischen Katholiken und Reformierten. Tausende Iren verloren ihr Leben. Man hoffte, eine Teilung der Insel in einen englischen, protestantischen Norden und einen katholischen Süden könnte die Gemüter beruhigen. Doch die Gewalt endete erst, als mit dem Beitritt Großbritanniens zur EU die innerirische Grenze durchlässig für Waren und Menschen geworden war. Ob dieser Friede den Brexit aber überdauern wird, wagt gewiss niemand vorherzusagen. Die Leidenschaft des Streits im englischen Unterhaus ist jedenfalls ein schlechtes Vorzeichen. Und in Belfast ist auch schon die erste Bombe explodiert.
Alle Befragungen zeigen es unübersehbar: Wir Deutsche wollen die Engländer in der EU halten. Aber, bitte schön, so, wie wir sie mögen: glücklich, höflich und humorvoll, ohne Streit und Lügen. Dürfen wir aber einer unglücklichen Nation, die um ihre Antwort auf eine Schicksalsfrage sucht, ihre Emotionen verdenken? Das würde nichts ändern. Hilfreicher wäre, wenn die Remain- und die Leave-Gruppe ihre Gegenseite nicht mehr beschuldigen würde, ihrem Land das größte denkbare Übel anzutun. So wie im alten Griechenland, die Göttin Pandora ihre Büchse ausschüttete.
Nein: Wir leben im noch überwiegend christlichen Europa des 21. Jahrhunderts. Und wie unsere Demokratie macht uns diese Religion verantwortlich für das, was wir tun. Ihr erstes Gebot geht auf Abraham zurück, dem Gott sagte: „Sei ein Segen.“ Das könnte heißen: Sucht nicht das Böse, sondern das Gute bei euren Mitmenschen, vor allem den Frieden.
Und das wäre dann auch ein Tipp für streitende Freunde oder Paare.
Helmut Mehrer, Brühl