Neue Führungsspitze bei der SPD - Der Grundsatz des vorsorgenden Sozialstaats sollte in die Partei zurückgebracht werden Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität

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Die Süddeutsche Zeitung titelt am Montag „SPD will Sozialstaat reformieren“. Im SWR wird die SPD mit einem „runderneuerten Reifen“ verglichen. Die Tagesschau meldet Samstagnacht: „Die SPD will den Sozialstaat grundlegend reformieren und hat ein neues Sozialstaatskonzept beschlossen.“

Ist das wirklich ein neues Sozialstaatskonzept, das die SPD vergangene Woche beschlossen hat oder ist es nur eine Rückkehr zum vom Grundgesetz verpflichtend umzusetzenden Sozialstaatsprinzip?

Wenn man die jetzt herrschende Euphorie bei der SPD betrachtet und das blanke Entsetzen in den Gesichtern der Koalitionspartner in die Bewertung mit einbezieht, könnte man meinen, die SPD hat den Sozialstaat neu erfunden.

Wie ernst die SPD dieses Sozialstaatsprinzip nahm, bewies der letzte Kanzler der SPD, der sich 2005 in Davos damit brüstete, den effizientesten und größten Niedriglohnsektor gegen große Widerstände durchgesetzt zu haben. Dieser Kanzler hieß Gerhard Schröder, der Genosse der Bosse. Doch von nun an ging es bergab. Der Sozialstaat verkam zum Gesundbrunnen für die Wirtschaft, speziell der Großkonzerne und der Finanzwirtschaft. Der Staat wurde verschlankt. Selbst Gesetze ließ man von Wirtschaftskanzleien erarbeiten. In den letzten 21 Jahren war die SPD 17 Jahre in der Regierung. Am Beginn dieser Zeit als Seniorpartner. Zum Ende hin nur noch als Juniorpartner, den man brauchte, aber nicht wirklich ernst nahm.

Die SPD kann sich zwar auf die Fahnen schreiben, einen Mindestlohn geschaffen zu haben. Aber gleichzeitig hat man die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen ausgehöhlt. SPD geführte Landesregierungen haben den in öffentlicher Hand befindlichen Wohnungsbestand für einen Apfel und ein Ei verscherbelt. Die SPD war mit in der Regierung, als immer mehr hoheitliche staatliche Aufgaben in Privathände übertragen wurden. Sie hat eine nicht funktionierende Mietpreisbremse zu verantworten. Sie hat die Privatvorsorge im Rentensystem mit untauglichen Mitteln zu verantworten. Sie war mit in der Regierungsverantwortung, als die Infrastruktur verkam, bis auf die Autobahnen.

Hat die SPD die ausgesetzte Erbschaftssteuer den Forderungen des Verfassungsgerichts angepasst? Nein, man hat das von Kanzler Kohl übernommene Aussetzen der Erbschaftssteuerreform stillschweigend weiterlaufen lassen. Man hat den Pflegebereich fast komplett dem Renditedenken von Privatinvestoren in Alten- und Pflegeheimen überlassen. Die Arbeitnehmer zahlen ja die Pflegekassenbeiträge. Krankenhäuser werden privaten Finanzinvestoren anvertraut. All dies hat die SPD mit zu verantworten. Man lehnt grundsätzlich ein bedingungsloses Grundeinkommen ab, obwohl gerade dieses eine Partizipation am gesamtgesellschaftlichen Erfolg garantieren würde.

Nun von einem neuen Sozialstaatskonzept zu sprechen, das ist schon dreist. Man könnte es auch frivol nennen. Ein wahrer Gesinnungswandel wäre das Eingeständnis gewesen, Fehler in der Vergangenheit gemacht zu haben und nun bereit zu sein, daraus zu lernen und neu anzufangen. Es war Brandt, der das Motto ausgegeben hat: „Mehr Demokratie wagen.“ Es war Herbert Ehrenberg, der Ende der 1970er Jahre eine Wertschöpfungsabgabe andachte. In weiser Voraussicht einer sich verändernden Arbeitswelt. Er hielt einen Vortrag mit dem Titel: „Ohne den Produktionsfaktor Sozialstaat keine stabile Wirtschaft.“

Wenn ich nun die Euphorie der neuen SPD-Führung nehme, stellt sich mir die Frage, ob die, die jetzt das Sagen haben, sich ihrer SPD-Tradition bewusst sind. Ihnen möchte ich die Einleitung zum Godesberger Programm aus dem Jahre 1959 in Erinnerung bringen: „Die Sozialdemokratische Partei ist die Partei der Freiheit des Geistes. Sie ist die Gemeinschaft von Menschen, die aus verschiedenen Glaubens- und Denkrichtungen kommen. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte des sozialistischen Wollens.“

Nach Kohls Einführung des Mantra des Marktradikalismus wurde dieses von der SPD-Regierung unter Schröder mit seinem Mitläufer Fischer beibehalten. Die Werte von Gerechtigkeit und Solidarität als Grundwerte sozialistischen Wollens verkamen, um den eigenen Nutzen zu mehren. Man suggerierte dem Bürger, wenn jeder an sich denkt, sei an alle gedacht. Dem ist nicht so. Der Blick zum Bürger wurde durch ein dickes Brett verhindert.

Vielleicht kommt die SPD doch zurück zu ihrer sozialdemokratischen Wurzel und ihren Grundaussagen zum vorsorgenden Sozialstaat des Hamburger Programms aus 2007. Ich kann das nur hoffen. Renate Brandenburg-Trunschel, Schwetzingen