Europapolitik - Die Union überzeugt durch Menschenwürde und Frieden statt nationalistischer Tendenzen Mut aus der Geschichte schöpfen

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Wer Gründe sucht, sich den Kopf zu zerbrechen, muss nicht weit und lange suchen. Die Reisen deutscher Politiker in Peking, Marrakesch oder Kattowitz zeigen, wo Menschen leiden: unterdrückte Uiguren, vom Krieg gequälte Syrer, hungernde Afrikaner. Eine endlose Liste. Auch wir Europäer fühlen uns mehr belastet denn je.

Auf jeden Fall mehr als wir ertragen wollen: Wird der Brexit zu einem Wirtschaftskrieg ausarten, Italien von seinen Schulden erdrückt werden, wird Spanien seine Einwanderungswelle bewältigen und Belgien seine Regierungskrise? Und hinter und über allem steht die Erderwärmung, die das Leben aller bedroht.

Wäre es da nicht an der Zeit, dass einer der führenden Brüsseler Politiker das Wort ergreift und seinen Mitgliedern Selbstvertrauen im Kampf und die Erhaltung der Einheit zuspricht? Und was sollte er sagen? Liebe Europäerinnen und Europäer, unsere Union ist von Gefahren vielfältiger Art bedroht. Und niemand weiß, wie wir diese Herausforderungen bestehen können. Nur Eines ist sicher: Wenn wir den Mut sinken lassen und die Hände in den Schoß legen, werden wir schnell und sicher untergehen. Wir müssen kämpfen!

Woher aber den Mut nehmen? Mein Vorschlag: aus unserer Geschichte! Oft greifen wir auf sie zurück, um uns vor Kriegen zu warnen, die in den vergangenen Jahrhunderten unseren Kontinent zerstört und Millionen von Menschen ums Leben gebracht haben. 1870 brachte Bismarck trickreich Napoleon III. dazu, Preußen den Krieg zu erklären: 43 000 Tote. 1914 waren zwar alle Staaten Europas kriegsbereit, aber Wilhelm II. erklärte ihn als Erster: 16 Millionen Tote. Und 1939 überfiel Hitler Polen, danach fast ganz Europa und ermordete 6 Millionen Juden: 60 Millionen Tote.

Wir kennen diese deprimierenden Zahlen und wissen, dass von Krieg zu Krieg ständig mehr Soldaten fallen und immer mehr Frauen und hilflose Kinder durch Bomben getötet werden. Dennoch, sie geben uns einen Hinweis, dass etwas dabei ist, sich zum Guten zu verändern. 75 Jahre waren es vom ersten bis zum dritten Krieg: 1870-1945. Von 1945 bis zum nahen 2020 genau so viele, aber friedliche. Auf die mit Waffen ausgetragenen Konflikte der Nationalstaaten folgten die am grünen Tisch gelösten der Europäischen Union. Das klingt wunderbar, wird aber auch in Frage gestellt.

Man hört: „Der Frieden nach 1945 war Zufall. Die Ost-West-Spaltung hat Europa geteilt und zur Treue gegenüber den führenden Mächten, den USA und der UdSSR, gezwungen. Das stimmt zwar, aber den Vätern Europas, Jean Monnet, Robert Schuman und dann auch Konrad Adenauer ging es von Anfang an um die Erhaltung des Friedens. Zweiter Einwand: In der ersten Hälfte der Epoche seien die Nationen auf edle Werte ausgerichtet gewesen: Ehre, Selbstbewusstsein und Würde, und die seien verloren gegangen. Heute zeige sich nur niederer wirtschaftlicher Egoismus.

Das ist ungerecht, denn Europa ist gleichzeitig demokratisch geworden. Mit ganz anderen Werten, den Grundrechten, der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Menschenwürde. Sie gelten weltweit und für alle Menschen und fordern die Regierungen auf, für ihre Völker zu sorgen. Deutschland hat in den ersten 75 Jahren zwei schwere Wirtschaftskrisen erlebt: 1878 und 1929 (mit Hitler im Gefolge) und zwei durch die Kriegswirtschaft ausgelösten Inflationen, die schmerzhafte Währungsreformen erzwungen haben. In der Zweiten 1948 wurde die Deutsche Mark eingeführt, die als Kern des Euro bis heute besteht.

Alles zusammengenommen, gibt es kein Argument mehr, das für die Nationalstaaten spricht, weder für ihre Werte, ihre Politik noch für eine isolierte Wirtschaft. Die Zeit nach 1945, die Einigung Europas, überzeugt uns durch Menschenwürde statt nationalistischer Ideale und vor allem durch den Frieden. Es dürfte keine Frage sein, dass Staaten, die in Gemeinschaften zusammenleben, es leichter haben als völlig Eigenständige („America first“), andere zu einer weltweiten Zusammenarbeit in der Klimarettung zu bewegen.

Kämpfen wir also für Europa und werben wir für die Rückgewinnung Großbritanniens. Bedauerlicher-weise hat bislang kein europäischer Politiker so eine Rede gehalten.

Helmut Mehrer, Brühl

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