Gedenktage - Wenn Freiheit, Neuaufbau und Geschenke vergessen werden, dann bleibt der Frust Wir haben viele Gründe, um dankbar zu sein

Lesedauer

Das vergangene Wochenende hat es uns wieder zu Bewusstsein gebracht: Eigentlich sind wir Glückspilze. Vor 80 Jahren haben wir die Welt in einen Krieg gezwungen, an dessen Ende 60 Millionen Tote standen, darunter sechs Millionen ermordete Juden.

Aber schon fünf Jahre nach allen Gräueln und Verbrechen wurde der Westen unseres Landes gleichberechtigt in die entstehende Europäische Gemeinschaft aufgenommen. Der Osten, die Deutsche Demokratische Republik, blieb dagegen in den Händen der Sowjetunion. Bis vor 30 Jahren die Mauer fiel und die Rückkehr zur Einheit begann.

An das Glück von 1989 haben wir uns am Fernsehschirm erinnern lassen. Aber wie lange wird das in uns weiterleben? Damit man es nicht vergisst: Schon bald nach 1989 machten sich Unzufriedenheit und Missmut bei uns breit. Durchaus verständlich. Frust bleibt, aber die Geschenke, die Freiheit und der Neuaufbau, das Ende von Unterdrückung und Zerfall, wurden bald zur Selbstverständlichkeit. Beim Jubiläum wurden sie wieder gewürdigt. Für wie lange?

Schlechte Laune ist offenkundig längerlebig als Glück. Und genau dasselbe erleben wir Deutsche derzeit am rechten Rand unserer Parteien. Seit langem ging es uns nicht mehr so gut wie heute. Wir haben mehr Beschäftigte denn je und die niedrigste Arbeitslosenquote seit einem halben Jahrhundert. Industriebetriebe, Krankenhäuser und Altenheime suchen im Ausland händeringend nach neuen Kräften.

400 000 Menschen pro Jahr brauche man, so heißt es, sonst würden ganze Betriebe auswandern. Und in dieser Zeit, vor vier Jahren, 2015, erlebte die Bundesrepublik die Ankunft von Menschen, die aus der Not, dem Krieg und dem Elend ihrer Heimat geflohen waren, um hierzulande Arbeit und Auskommen zu finden. Eingestanden, es waren mehr als die 400 000 Gesuchten, und nur wenige hatten eine berufliche Vorbildung und noch weniger eine gefragte. Sehr viele waren aber jung, lernwillig, zu großer Anstrengung bereit und erfolgreich.

Nach drei Jahren übte mehr als ein Drittel von ihnen eine versicherungspflichtige Tätigkeit aus. Bei jungen Deutschen hätte das 20 Jahre länger gedauert. An diesem Eifer und diesem Lernwillen haben die deutschen, freiwilligen, ehrenamtlichen, unbezahlten und spontanen Helfer der Flüchtlinge ihren Anteil. Ihr Beispiel und ihr Vorbild haben ganz ohne Zweifel motivierend gewirkt.

Trotz all dem haben die deutschen Rechten eine innere Abwehr gegen Fremde und rassistische, speziell antisemitische Tendenzen ausgebeutet. Kein Argument war ihnen dabei zu gemein. Sie verschonten weder die Flüchtlinge noch ihre Unterstützer. Den Gipfel dieser Brutalität bildete der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im letzten Sommer. Monatelang waren Hassmails vorangegangen.

Völlig absurd wirkt vor diesem Hintergrund die Behauptung des AfD-Bundessprechers im Bundestag, kurz vor dem Jubiläum des Mauerfalls: „Seit der Ausrufung der Willkommenskultur 2015 ist es zu einer gewaltigen Radikalisierung und Spaltung der gesamten Gesellschaft gekommen.“

An diesem Satz ist nachgerade alles falsch. Die „Willkommenskultur“ wurde ja nirgendwo „ausgerufen“. Sie ist ein verdientes und nachträglich erteiltes Lob, das Deutschlands Ansehen weltweit gestärkt hat und niemals vergessen werden wird. „Die Radikalisierung und Spaltung“ war die Frucht der eigenen Attacken. Sie haben auch nicht die „gesamte Gesellschaft“ erreicht, aber für meinen Geschmack immer noch zu viele Anhänger gefunden.

Alle Deutschen, denen der Friede und das Glück ihres Landes wichtig sind, sind zum Widerspruch aufgerufen.

Helmut Mehrer, Brühl