Dampfsäulen zischen im Frost

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El Tatio, den die Ureinwohner Tata Tatio, den rauchenden Vater, nennen, stellt in der Atacama-Wüste Chiles das weltweit am höchsten gele-gene, drittgrößte Geysir-Feld der Erde dar. Karsten-Thilo Raab

Fast scheint es, als würde jemand irgendwo mit einem Schlag einen großen Wasserhahn abdrehen. Kaum ist die Sonne über den Anden aufgegangen, verschwinden die gigantischen Dampfsäulen in Minutenschnelle. Wo eben noch bei Temperaturen um minus 20 Grad Celsius um die Wette gezittert und geschnattert wurde, steigen die Temperaturen nun sprunghaft an. Nach und nach wird eine der fünf, sechs Kleiderschichten abgelegt.

In der Tat findet sich hier kaum ein Frühaufsteher, der nicht das Zwiebelprinzip praktiziert. Die Faszination mischt sich zunehmend mit einem Wohlfühlgefühl, obwohl die Luft nicht gerade zu Freudensprüngen einlädt. Denn auf knapp 4500 Metern über dem Meeresspiegel ist diese extrem dünn. Alle Bewegungen werden fast im Schneckentempo ausgeführt.

Fantastische Natur

Doch keine Frage, das frühe Aufstehen und das lange Frieren haben sich gelohnt. Denn hier, mitten in den chilenischen Anden, am Rande der Atacama-Wüste, zieht eines der faszinierendsten Naturphänomene Besucher aus aller Herren Länder in seinen Bann: El Tatio - oder wie die Indianer des Hochgebirges sagen: Tata Tatio, "der rauchende Vater".

Ein Beiname, dem das höchstgelegene Geysirfeld der Welt mit seinen 40 Geysiren, 60 heißen Quellen und mehr als 70 Fumarolen auf mehr als drei Quadratkilometern Fläche vollauf gerecht wird. "Nur die Geysir-Felder im Yellowstone Nationalpark in den USA und auf der Halbinsel Kamtschatka im russischen Dolina Geiserow sind größer", weiß Guillermo Pez in perfektem Deutsch zu berichten. Schon am Vortag hatte der 33-jährige Venezolaner, der in Wien Hotelfach studierte und seit 2003 in der knapp 90 Kilometer entfernt liegenden Oasenstadt San Pedro als Fremdenführer arbeitet, auf den Trip in ungeahnte Höhen eingestimmt.

Viel trinken, wenig Alkohol und früh schlafen gehen, lauteten die Empfehlungen des Experten. Viel trinken und Alkoholverzicht war kein Problem. Allein die Sache mit dem Schlaf gestaltete sich etwas schwierig. Denn in San Pedro de Atacama, dem touristischen Herz in der trockensten Wüste der Welt, heulen nachts zwar keine Kojoten, dafür aber die unzähligen Straßenhunde den Mond an. Und in den kristallklaren Nächten erstrahlen Millionen von Sternen am Himmelsfirmament. Die Milchstraße ist hier auf knapp 2400 Metern über Normalnull so deutlich wie kaum irgendwo sonst auf der Welt zu sehen. Hinzu kommt ein wahrer Sternschnuppen-Regen, bei dem die Himmelsgucker kaum mit dem Wünschen nachkommen.

Extremes Klima

Lange, bevor der erste Hahn kräht, beginnt die Tour zum El Tatio. Fahrer Juan Carlos ist dick eingemummelt, trägt Handschuhe, Schal und zwei Mützen übereinander. Über Schotterpisten quält sich der Kleinbus hinauf in die Anden. Am Putana-Fluss auf gut 3900 Meter Höhe folgt ein erster Zwischenstopp, um sich an die extremen klimatischen Bedingungen und die dünner werdende Luft zu gewöhnen.

"Wichtig ist es, möglichst viel durch die Nase einzuatmen", rät Guillermo, der für den Fall der Fälle eine Sauerstoffflasche im Gepäck mit sich führt. Am Ufer des Putana wartet die erste Überraschung. Im Gegensatz zu der - mit Ausnahme der Oasen - pflanzenlosen Atacama-Wüste schlummert hier rund 1500 Meter höher ein Feuchtsumpfgebiet, das mit seinen großen Wasservorräten zum Tummelplatz für eine Vielzahl an Tieren avancierte. Es wimmelt von Andenmöwen, Nandus, einer Straußenart, und Hornblesshühnern. Auch die stets aufgeregt wirkenden Vizcachas, eine kleine Hasenart mit grünlich schimmerndem Fell, Lamas und ihre kleineren Verwandten, die Vicuas, drängen sich um die Wasserstellen.

Weithin sichtbare Wolken

Neidvoll gelten bei frostigen Temperaturen im zweistelligen Minusbereich die Blicke den tierischen Andenbewohnern. Ja, Lama müsste man sein. Deren dickes, zotteliges Fell wirkt wie ein warmer Ganzkörperumhang. "Wem es zu kalt ist, der sollte sich einfach Lama-Dung unter die Kleider stopfen", rät Guillermo halb amüsiert, halb ernst. In der Tat schützen sich Andenisten, wie die Bergsteiger in dem südamerikanischen Hochgebirge heißen, mit Lama-Exkrementen vor Erfrieren. "Allerdings riecht man dann etwas strenger", flachst Guillermo, bevor die letzten 600 Höhenmeter mit dem Auto in Angriff genommen werden.

Schon von weitem sind die riesigen Dampfwolken im Halbdunkel zu sehen. Aus rund 70 Fumarolen dampft und spuckt es gleichzeitig. Wasserdampf wird bis zu 15,20 Meter hoch in die kalte Luft katapultiert. Die Geysire und heißen Quellen bringen das Wasser auf Temperaturen von rund 85 Grad Celsius. In Sekundenschnelle bilden sich kleine Pools mit siedend heißem Wasser vor dem herrlichen Panorama schneebedeckter Anden-Spitzen.

"Alles reine Physik", findet Guillermo. "Bei Kälte steigen die Dampfwolken deutlich höher." Währenddessen schiebt sich die Sonne langsam über die Bergspitzen, spiegelt sie sich in den aufsteigenden Dämpfen der Geysire. Und im gleichen Maße, wie die Sonne am wolkenlosen Himmel und somit auch die Temperatur höher klettern, schrumpfen die Dampfwolken. Nun zeigen die Geysire ein ganz anderes Gesicht. Der Blick auf die weiß-grün-roten Erdlöcher erinnert fast unweigerlich an eine Mondlandschaft.

"Jedes Loch singt ein anderes Lied, jedes Loch hat unterschiedliche Farben und Formen", zeigt sich Guillermo begeistert, als sei es sein erster Besuch am El Tatio. Höhenluft und Minusgrade sind plötzlich vergessen, wohl auch, weil spätestens ab 10 Uhr morgens von den brodelnden Geysiren nichts mehr zu sehen ist. Dann geht es mit dem Kleinbus zurück nach San Pedro de Atacama, wo die Quecksilbersäule auf locker 30 Grad Celsius steigt - sofern der Sonnengott gnädig gestimmt ist.

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