Jenny Zabel atmet tief ein, als sie die Lupinenstraße betritt. "Hier ist es also", sagt sie und bleibt stehen. "Hier hat meine Mutter also gearbeitet und gelebt." Vor mehr als 60 Jahren verdiente Emmie Niehaus ihr Geld als Prostituierte in Mannheim, während ihre Tochter Jenny in Kinderheimen und bei Pflegefamilien aufwuchs, ohne Kontakt zu ihren leiblichen Eltern. Heute - 58 Jahre nach dem Tod ihrer Mutter - erforscht die gebürtige Schwetzingerin ihre Familiengeschichte. Und sucht ihren Vater.
"Vor einiger Zeit stieß ich auf die Mannheimer Morgen-Serie 'MenschMannheim' und die Folge zum Thema Prostitution", sagt Jenny Zabel. Da kam ihr die Idee, sich an die Leser des "Mannheimer Morgen" zu wenden. "Vielleicht weiß ja jemand etwas von meiner Mutter oder von meinem Vater."
Es ist früher Vormittag. Männer von der Stadtreinigung durchqueren mit ihrem Putzfahrzeug die Straße. Sonst ist nicht viel los in der Rotlichtmeile. "Im Haus 12 oder 15 hat sie wohl gearbeitet", sagt die 65-Jährige und bleibt vor einem Laufhaus mit blinkenden Reklameschildern stehen. "Meine Mutter kam 1947 nach Schwetzingen." Emmi Niehaus, geboren in Bernburg an der Saale, war 16, als sie heiratete. Als ihr Mann sechs Jahre später im Krieg fiel, war sie Mutter zweier Kinder, den älteren Geschwistern von Jenny Zabel. "1951 oder 1952 muss sie dann in die Lupinenstraße gezogen sein."
Odyssee durch Heime und Familien
Den größten Teil ihres Lebens kannte die zierliche Frau keine Details aus dem Leben ihrer Eltern. Ihren Vater lernte sie nie kennen, an ihre Mutter kann sie sich nur schlecht erinnern. Zabels ältere Geschwister lebten bei den Großeltern in Bernburg, sie selbst wurde von ihrer Mutter noch als Baby in die Obhut ihrer Schwetzinger Vermieterin gegeben. Als diese den Säugling nicht mehr durchbringen konnte, begann für Jenny Zabel eine Odyssee durch Kinderheime und Pflegefamilien. "Das war schrecklich", sagt sie. Bis heute arbeitet die gelernte Buchhändlerin auf, was ihr als Kind und Jugendliche widerfahren ist. Sie erinnert sich an Hunger, an Misshandlungen und an harte Strafen wie tagelanger Isolation, wenn sie nicht artig genug gewesen war.
Dass ihre Mutter 1957 mit 32 Jahren an Krebs starb, erfuhr Jenny Zabel erst Jahre später, in einem Nebensatz, von ihrer damaligen Pflegemutter in Darmstadt. "Das war eine eiskalte Frau." Während ihre Pflegeeltern ihre Zimmer vermieteten, musste ihre Ziehtochter in der Badewanne schlafen, wurde schikaniert, geschlagen. "Du sollst nicht so werden wie deine Mutter", schrie ihre Pflegemutter, als Zabel mit 15 tanzen gehen wollte. Was die Pflegemutter damit meinte, davon konnte sie sich damals kein Bild machen. Nachzufragen traute sie sich nicht.
Joe Zambrano und Heinz Schade
Erst Anfang der 90er Jahre, da war sie bereits über 40, verriet ihr der Bruder ihrer Mutter, dass diese als Prostituierte gearbeitet habe. "Ich konnte es nicht glauben", sagt Zabel, die mittlerweile im Ruhestand ist. Über Näheres hüllte sich die Familie in Schweigen. Also fing sie an, selbst ihre Vergangenheit zu erforschen und stieß dabei auf die Namen zweier Männer: Joe Zambrano und Heinz Schade.
"Joe Zambrano ist in meiner Geburtsurkunde als mein Vater eingetragen", sagt sie. Der 1926 in Zanika, Mexiko geborene US-Amerikaner war in den 50ern in der Tompkins Kaserne in Schwetzingen stationiert. "Mehr weiß ich nicht von ihm", sagt Zabel, die sich nicht sicher ist, ob dieser Mann auch tatsächlich ihr leiblicher Vater ist. "Heinz Schade, der spätere Verlobte meiner Mutter, könnte es nämlich auch sein." Aus den wenigen Erzählungen ihrer Angehörigen weiß sie, dass er im Lindenhof wohnte und ein BMW-Motorrad fuhr. Ein Foto, das ihr vor einigen Jahren in die Hände fiel, zeigt sie als Vierjährige mit Schade. "Meine Mutter und er haben mich 1954 bei meiner damaligen Pflegefamilie in Schollbrunn besucht." Doch daran erinnert sie sich nur ganz dunkel. "Wenn ich mir das Foto ansehe, frage ich mich aber natürlich schon, warum er damals mitgekommen ist. Dann vergleiche ich seine Nase und seine Stirn mit meiner...", sie seufzt. "Ich sehne mich sehr nach meinem Vater, ganz egal ob es Joe Zambrano oder Heinz Schade oder ein ganz anderer Mann ist. Ich würde so gerne wissen, ob ich ihm ähnlich bin, welche Eigenschaften ich von ihm habe", sagt die 65-Jährige.
Mit dem Lebensweg ihrer Mutter hat Jenny Zabel ihren Frieden gemacht und ist erleichtert, dass sie inzwischen so offen über ihre Vergangenheit sprechen kann. "Es ist wichtig, dass man sich öffnet. Das tut sonst der Seele weh."
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