Ein verheirateter Geistlicher, Ehebruch im geistlichen Milieu und eine Scheidungsszene - dies alles passiert in "Stiffelio", Giuseppe Verdis kurz vor der Trias "Rigoletto", "Il Trovatore" und "La Traviata" entstandener Oper. 1850 war das. Und Verdi hatte sehr mit der Zensur zu kämpfen. Am Samstag kommt "Stiffelio" ins NTM, dessen ehemalige Generalintendantin Regula Gerber Regie führt. Martin Muehle wird seine erste große Titelpartie übernehmen - ein Gespräch.
Herr Muehle, Sie sind in Brasilien geboren und aufgewachsen. Gesangsunterricht haben Sie dort aber noch keinen genommen. Ist das nicht möglich?
Martin Muehle: In Porto Allegre, wo ich aufwuchs, gab es keinen guten Gesangslehrer. Später bin ich nach Montevideo (Uruguay) gefahren, um Gesangsunterricht zu bekommen.
Seit einigen Jahren leben Sie in Europa, gegenwärtig sind Sie Mitglied des Mannheimer Opern-Ensemble. Was haben Sie heute für ein Verhältnis zu Brasilien?
Muehle: Nach Mannheim zu kommen, war eine prima Idee. Hier ist das Theater wirklich Teil der Stadt und Repertoire-Bühnen wie hier gibt es in Brasilien einfach nicht. Trotzdem sind die Beziehungen zu Brasilien natürlich sehr eng, meine Verwandten leben dort. Inzwischen ist es allerdings eine Art Hassliebe geworden. Einerseits ist Brasilien unglaublich schön, andererseits gibt es dort sehr viel Korruption und eine deprimierende Armut. Und die Abzockerei wegen der Fußball-WM hat schon begonnen.
Haben Sie eigentlich immer schon Tenor gesungen?
Muehle: Vor meiner Gesangsausbildung habe ich Bariton gesungen und ich wollte auch gar kein Tenor sein. Bösewichter in der Oper sind praktisch immer Bariton, und die haben die viel interessanteren Rollen als die Tenor singenden Helden.
Stiffelio, den Sie in Mannheim singen, ist offenbar eine Ausnahme von dieser Regel. Er ist Tenor, aber trotzdem kein strahlender Held.
Muehle: Stiffelio steht unter ständiger emotionaler (und auch musikalischer) Hochspannung. Stiffelio als Mann und Stiffelio als Priester: Diese beiden Welten prallen ständig aufeinander. Der Sänger des Stiffelio ist gut beraten, auf seine stimmliche Leistungsfähigkeit zu achten, um dieser Rolle gerecht werden zu können. Da gibt es kein Pardon. Stiffelio ist eine sehr schwere Partie, die körperliche Belastung ist enorm.
Stiffelio ist ein protestantischer Sektenführer, ein religiöser Eiferer, der von seiner Frau Lina betrogen wird. Doch am Ende vergibt er seiner Frau. Glauben Sie ihm das?
Muehle: Nein. Er vergibt ihr zwar vor der Gemeinde, dazu zwingt ihn die christliche Botschaft; wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Aber ich glaube nicht, dass er ihr als Mensch vergeben hat. Man sieht das heute an den Vorkommnissen in der katholischen Kirche: Auch Geistliche sind Menschen und alles andere als fehlerfrei. Stiffelio ist eigentlich eine obskure Figur und gerade kein tenoraler Held.
Stiffelio wird auffallend selten gespielt. Haben Sie eine Erklärung?
Muehle: Ich frage mich das selbst, und eine wirkliche Erklärung habe ich nicht. Die Musik ist jedenfalls wunderschön. Aber vielleicht erleben wir ja gerade den Beginn einer Stiffelio-Renaissance. Ein typischer Verdi ist Stiffelio allerdings nicht. Ich singe zwar die ganze Zeit, aber eine richtige Arie wie etwa Radames in der "Aida" habe ich nicht. Das ist für eine Titelfigur bei Verdi sehr ungewöhnlich. Außerdem ist Stiffelio keine Identifikationsfigur und das Thema eheliche Untreue ist zwar aktuell, aber gerade deshalb vielleicht eher unangenehm - auch das mag ein Grund dafür sein, dass die Oper so selten aufgeführt wird.
Gibt es eine Partie, die Sie gerne möglichst bald singen würden, eine Traumrolle?
Muehle: Ja, die gibt es: den Mario Cavaradossi aus Puccinis "Tosca". Im Moment bin ich allerdings noch im Stiffelio-Rausch.
Und umgekehrt: Gibt es Partien, die Sie nicht singen würden?
Muehle: Ja, die gibt es auch: Otello zum Beispiel, Tristan oder Tannhäuser. Das gilt aber nur für den Moment und hat rein musikalische Gründe. Später würde ich den Otello schon gerne singen.
Und Wagner?
Muehle: Einige Wagner-Partien (Erik, Siegmund) habe ich schon gesungen, mit den großen Heldentenor-Partien sollte ich mir noch Zeit lassen. Man riskiert sonst, seine stimmliche Leichtigkeit zu verlieren.
Sie haben ein breit gefächertes Repertoire, singen Verdi wie Wagner, Mozart, Operetten und Lieder . . .
Muehle: . . . ich habe mit Operette angefangen, in Baden bei Wien. Das war eine gute Schule, Operette ist nämlich gar nicht so einfach. Außerdem lernt man, sich richtig auf der Bühne zu bewegen.
Tenor Martin Muehle
Der deutsch-brasilianische Tenor Martin Muehle wurde in Porto Allegre (Brasilien) geboren. Er bekam Gesangsunterricht in Montevideo bei Jean-Charles Gebelin, später in Lübeck bei James Wagner, außerdem bei Carlo Bergonzi und Alfredo Kraus.
Muehle hat an Opernhäusern sowohl in Europa als auch in Südamerika gastiert, auch als Tamino, als Narraboth ("Salome") und als Alfred in Strauß' "Fledermaus". Muehle hat sich auch als Konzertsänger und im Bereich der neuen Musik einen Namen gemacht. Seit dieser Spielzeit ist Muehle Mitglied im Ensemble des Nationaltheater Mannheim.
Termine: 29. März (Premiere), 5., 9. April, 17., 24. Mai, 5. Juni und 24. Juli.
Info/Karten: 0621/1680 150
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