Die Katastrophe in Japan hat auch das Leben der Deutschen Julia Leser und Clarissa Seidel auf den Kopf gestellt. Nur wenige Wochen nach dem 11. März 2011 reisten die Studentinnen außerplanmäßig nach Tokio und drehten einen Film über die Proteste gegen Atomkraft. Seitdem touren sie durch Deutschland, um ihn zu präsentieren.
Als Julia Leser am Freitag, den 11. März 2011 aufwacht, ist es Mittag. Alles in ihrem Zimmer in dem Tokioter Studentenwohnheim wackelt: die Bücher im Regal, der Laptop, die Tasse auf dem Tisch. Julia Leser ist noch müde, aber sie macht das, was sie bei einem Kurs der Feuerwehr gelernt hat: Sie setzt sich unter den Tisch und wartet ab, dass es vorübergeht. Sie hätte gerne noch länger geschlafen, denn in der Nacht zuvor ist sie von einer Reise zurückgekehrt. Für die Japanologiestudentin ist es nicht das erste Erdbeben, das sie in den letzten sieben Monaten erlebt hat - seit sie in dem Inselstaat wohnt. Doch sie merkt schnell: "Diesmal war es anders als sonst: Es wurde immer stärker und ging vier oder fünf Minuten lang." Bisher hätten die Beben je etwa eine halbe Minute gedauert, wird sie später erzählen.
Als das Beben nachlässt, stellt sie fest, dass in ihrer Umgebung nichts weiter passiert ist. Die Häuser in Japans Hauptstadt sind bebensicher gebaut. Und dennoch wird nach den fünf Minuten alles anders sein. Sie wird von dem Tsunami an der Ostküste Japans erfahren und von dem anschließenden Unglück im Atomkraftwerk Fukushima. Die 24-Jährige wird zwei Tage später viel früher als geplant zurückfliegen und ein Jahr später, nämlich jetzt, pünktlich zum Jahrestag der Katastrophe durch Deutschland reisen und möglichst vielen Menschen ihren Film zeigen, den sie über die Anti-Atomkraft-Proteste nach dem GAU gedreht hat - in Japan.
Für die Erfurterin war es ihre Art, mit dem Unglück umzugehen. Zurück in Deutschland stürzte sie erst einmal in eine Krise: "Ich wollte wieder zurück und mein Auslandssemester abschließen", erzählt sie. Viele persönliche Dinge - Führerschein, Handy, Kleidung - hatte sie dort gelassen. Sie hatte nicht damit gerechnet, in Deutschland bleiben zu müssen. "Ich war total rausgerissen, stand zwischen zwei Welten." Einige Wochen vergingen. Und dann fing die Frau mit der halbseitig wegrasierten Lockenpracht an, über die Rückkehr nach Japan nachzudenken - als Studentin und Regisseurin. Nie zuvor hatte sie eine Kamera in der Hand gehalten, aber Leser war nicht alleine: Da war noch Clarissa Seidel, eine Studienfreundin. Seidel hatte sie just zum Zeitpunkt des Unglücks besucht und sie kannte sich ein wenig aus im Filmemachen, hatte zuvor ihr Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaften abgeschlossen.
Proteste gab es vorher nicht
Was Leser würde dokumentieren wollen, war ihr schon vor dem Abflug klar. Schon vor Fukushima hatte sie sich für Protestbewegungen in Japan interessiert - die es im Land der aufgehenden Morgensonne so gut wie nicht gab. Warum das so ist, erklärt sie anhand der Geschichte des Landes: "In den 60ern/70ern gab es eine Riesen-Protestkultur. Die Demos radikalisierten sich und waren zum Teil sehr gewalttätig." Es habe einzelne Splittergruppen gegeben, die sich im Untergrund gegenseitig bekämpft und umgebracht hätten. "Das schreckte die Mehrheit der Bevölkerung ab, politischer Aktivismus bekam ein schlechtes Image."
Doch es scheint sich etwas zu verändern in dem asiatischen Land: Der Film zeigt große Kundgebungen, keine kleinen: Rund einen Monat nach der Explosion des Atomkraftwerks Fukushima, am 10. April, beginnen sie in Tokio. Ein Zeitzeuge spricht in die Kamera: "Als die Organisatoren die Demonstration anmeldeten, schätzten sie die Teilnehmerzahl auf ungefähr 500 Menschen. Doch es nahmen 15 000 teil." Diese Worte zu hören und dazu die Bilder der Menschenmassen zu sehen, lässt Gänsehaut entstehen. Doch der Film vermittelt mehr als ein paar Emotionen. Er gibt einen Einblick in die japanische Kultur und in seine sehr kleine Subkultur, die sich als Minderheit mit Umwelt- und sozialen Problemen beschäftigt und auch die Kundgebungen gegen Atomkraft organisiert. Der Film klagt nicht an, sondern dokumentiert zurückhaltend das, was gerade in dem Inselstaat vor sich geht.
Bausparvertrag floss ein
Wer es nicht weiß, denkt nicht, dass ihn zwei junge Menschen ohne Dreherfahrung produziert haben, für die das Unterfangen ein Kraftakt war: Trotz aller Zweifel und Ängste ihrer Familien brachen die Frauen nach Japan auf. Geld dafür haben sie sich von den Eltern geliehen. Und auch die Hälfte von Seidels Bausparvertrag floss mit ein. Allein in die Filmausrüstung mussten sie rund 2000 Euro investieren. Drei Wochen lang filmte das Gespann in Tokio. Dann studierte Leser in Japan weiter, Seidel begann in Deutschland ein Praktikum. Nebenbei drehten sie noch Übergangsszenen, schnitten das Material, untertitelten den Film in drei Sprachen, suchten Filmmusik aus, machten Werbung für ihr Werk.
Im vergangenen November war es dann so weit: Sie zeigten den Film zum ersten Mal in einem deutschen Kino: Beim japanischen Filmfestival in Frankfurt. Der Saal war ausverkauft, es schlossen sich eine Diskussion und viel Lob an. "Da habe ich endlich gemerkt, warum wir das gemacht haben", sagt Leser. Seitdem touren sie durch Deutschland und zeigen den Film. "Jetzt sind wir ausgebrannt und abgebrannt", sagt Seidel und lacht so herzlich und frisch, dass man ihr am liebsten nicht glauben würde.
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