In ihrem politischen Leben hat Rita Süssmuth heiße Themen wie Abtreibung, Zuwanderung und Nazivergangenheit angesprochen und sich damit nicht immer Freunde gemacht. Vor allem Integrationsfragen liegen ihr nach wie vor am Herzen. Dazu ein Gespräch aus aktuellen Anlass.
Sie ist Mitglied im Kuratorium der Bertelsmann-Stiftung, war Vorsitzende der Kommission Zuwanderung sowie des Sachverständigenrats für Integration und ist Mitglied auch der Internationalen Organisation für Migration. Kaum jemand kann zum Thema Einwanderung so viel beitragen wie Rita Süssmuth.
Frau Süssmuth, wir leben in Zeiten der Globalisierung. Einerseits verlangen Handel und Wissenschaft nach Internationalisierung, andererseits sind Grenzen allein aus Sicherheitsaspekten notwendig. Wie damit umgehen?
Rita Süssmuth: Wenn ich dazu die Europäische Union betrachte, dann ist sie auch dadurch entstanden, dass die Grenzpfähle abgebaut wurden - und zwar von der Jugendgeneration. Und gleichzeitig erleben wir inmitten dieser Globalisierung, dass Menschen wieder die abgegrenzten Räume zumindest in Bezug zu Heimat suchen. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass das Grenzüberschreitende diesen Bezug ersetzt. Vielmehr gilt es zu fragen: Was setzt uns Grenzen? Unsere bisherige Erfahrung, unser Denken und Handeln, unsere Angst oder unsere Befürchtung? Wenn wir keine Grenzen haben, wie gefährdet sind wir dann, wer kommt da herein - unkontrolliert? Also es gibt doch neben dem Entgrenzen das Begrenzende und das Kontrollierende.
Aber wie lässt sich da eine Balance herstellen?
Süssmuth: Damit sind wir beim Informations- und Bildungsgedanken. Es müsste eigentlich unsere nüchterne Schlussfolgerung sein, zu fragen, ob wir die Menschen vorbereitet haben auf das, was wir ihnen heute nicht nur zumuten, sondern zutrauen. Wir haben in Deutschland immer gesagt: Wir sind kein Einwanderungsland. Wir sind es aber bereits, seit Langem! Und je mehr das sichtbar wird, desto heftiger werden auch die Reaktionen. Man muss die Menschen mitnehmen in eine neue Zeit, wobei diese Veränderungen immer schneller gehen. Das heißt, wir haben es nicht nur mit Grenzen menschlicher Vorstellungskraft zu tun, sondern auch mit der Abwehr von Vorstellungen, vor denen wir aber auch nicht flüchten können.
Sie haben sehr früh zum Themenbereich Migration gearbeitet - seit 2000 in einer unabhängigen Kommission. Wenn Sie zurückblicken auf Ihre Arbeit: Wo wurde etwas falsch oder nicht ausreichend gemacht, was hätte man erkennen können und hat es nicht erkannt?
Süssmuth: Ich habe mich schon 1994 mit diesem Thema befasst, habe gesagt, wir sind ein Einwanderungsland und brauchen ein Einwanderungsgesetz. Das hat heftigsten Widerstand ausgelöst, ausgehend von der These, dass alle Gastarbeiter zurückgehen. Integration spielte allenfalls am Arbeitsplatz eine Rolle, nicht in der Bildung, nicht bei der Frage der Beteiligung an der Gestaltung unserer Gesellschaft, schon gar nicht im Bereich Staatsbürgerrecht. Das hat sich nach einer erheblichen Flüchtlingswelle geändert, als nach dem Wegfall der Mauer 450 000 bis 500 000 Menschen pro Jahr kamen. So ist das Dublin-Abkommen als Regelung zur Verteilung von Zuwanderern entstanden. In dieser Situation ist der Gedanke der Integration entstanden. Im Jahr 2000 hat der damalige Kanzler Gerhard Schröder die Kommission gebildet zur Vorbereitung eines neuen Gesetzes zur Integration. In dieser Kommission haben wir versucht, sowohl eine Bestandsaufnahme als auch eine Perspektive zu erarbeiten. Dabei spielte die Frage der Sprachkenntnisse eine Rolle, und: Wie verzahnen wir Bildung, Arbeit, Wohnen, gesellschaftliche Beteiligung?
Und wie kann das gehen?
Süssmuth: Im Augenblick, muss ich Ihnen sagen, ist diese Aufgabe größer denn je. Es geht um mehr als um die Integration der Zu- und Einwanderungswilligen. Wir müssen zugleich mit der Gesellschaft diskutieren, was anders wird, was nicht anders wird. Ich habe damals in meiner Veröffentlichung "Migration und Integration: Testfall für die Gesellschaft" geschrieben: Wir müssen vermeiden, dass es zum Kulturkampf, zur gespaltenen Gesellschaft kommt. Die wichtigste Frage ist eben nicht der Unterschied, die Verschiedenheit, sondern als übergeordnete Frage: Was hält uns zusammen, was haben wir gemeinsam?
Was wären Gemeinsamkeiten?
Süssmuth: Gezwungen zu sein, das Land zu verlassen, ist nach wie vor etwas, das Menschen verbindet, denn niemand möchte sein Zuhause verlassen. Gastfreundschaft, den anderen miteinbeziehen, das alles sind Dinge, die uns Menschen verbinden. Es geht jetzt nicht darum, Integration als Assimilation zu verstehen, sondern es ist ein wechselseitiges Lernen, und dabei muss jeder wissen, was er nicht verlieren möchte. Es geht darum: Wofür stehen wir gemeinsam mit welchen Werten ein? Sehen Sie, es gibt keine illegalen Menschen, es gibt nur illegale Grenzübertritte. Aber welche legalen Wege der Grenzüberschreitung gibt es denn? Die Zuwanderungsregeln sind so kompliziert - also dieses Problem ist noch überhaupt nicht gelöst! Ich muss bei denen, die wir jetzt zurückschicken, in die sogenannten sicheren Länder, wissen: Ein Teil davon wird es erneut versuchen.
Was also ist Ihres Erachtens zu tun?
Süssmuth: Die erste Frage: Was müssen wir in den Ländern investieren, damit die Menschen bleiben können? Das ist eine neue Art von Entwicklungspolitik, die unbedingt nötig ist. Das ist ja schon in der internationalen Zuwanderungskommission 2005/06 immer wieder gesagt worden, dass sich die Situation der armen Länder so sehr verschärft - gerade im Mittleren Osten und in Afrika -, dass die Menschen dort nicht warten werden, bis sich die Festung Europa öffnet. Sie werden sie stürmen. Und die zweite Frage: Wie muss ich in einer Kriegssituation verhandeln, in der die einen um jeden Preis Krieg wollen, und die anderen damit aufhören wollen? Wir sind ja in einer Situation, in der das konfrontative Denken stärker ist als das ,Wie kommen wir zusammen?'
Integration richtet sich nicht nur nach außen, auf die zu integrierenden Menschen, sondern auch nach innen, auf die Menschen, die integrieren sollen. Was ist dabei für sozial Schwache zu tun, die denken müssen, dass ihnen Leistungen zugunsten anderer vorenthalten werden?
Süssmuth: Wir haben schon im Jahr 2000 gesagt: Es gibt nachholende Bildung, Ausbildung und Integration in Arbeit für einen zu hohen Anteil in der eigenen Bevölkerung. Dieser Anteil ist etwas gesenkt worden, aber für mich nicht zureichend. Wir dürfen nicht vergessen, dass es immer noch um 25 bis 30 Prozent eines Altersjahrgangs geht, von denen wir meinen, sie wären nicht bildsam. Die wir über Wasser halten mit Hartz IV beziehungsweise den Leistungen aus den Landessozialgesetzbüchern. Eine wichtige Aufgabe, um eine Spaltung in der Gesellschaft zu vermeiden, ist es, dass wir die gesellschaftliche Einheit aller in Deutschland Lebenden sehr konsequent verfolgen, dass ich neben Maßnahmen für Migranten zugleich immer unsere Einheimischen - auch länger schon hier Lebenden - einbeziehe. Da bin ich der Meinung, wir müssen Bildung - also Bildung, Ausbildung, Arbeit - neu verknüpfen. Wir sprechen vom lebenslangen Lernen - können wir das nicht aufbauend machen? Zu sagen: Jetzt machst du erstmal ein paar Jahre Sprachkurs, dann machst du vielleicht eine Ausbildung - das dauert zu lange!
Wie kann man die Bevölkerung für dieses Denken, dass wir in einer bereits globalisierten Welt leben, sensibilisieren? Brauchen wir eine umfassende Bildungsreform?
Süssmuth: Große Reformen brauchen Zeit. Wie lange hat es gedauert, dass wir uns dem Gedanken einer Gesamtschule angenähert haben? Wie lange hat's gedauert, bis wir überhaupt bereit waren, frühkindliche Förderung außerhalb der Familie oder mit der Familie auf den Weg zu bringen? Aber was wir gleich tun können, ist, die Angst vor Fremdheit, vor Religion aufzugreifen. Inzwischen ist Islam ja nur noch negativ besetzt - aber schauen Sie sich die Muslime an, die ganz friedlich unter uns leben! Es fehlen uns Kenntnisse, da kommt den Bildungsinstitutionen - auch in Ausbildung und Beruf - ein hoher Stellenwert zu. Und was das Allerwichtigste ist: gemeinsam an Aufgaben arbeiten. Je mehr Aufgaben wir gemeinsam lösen, desto mehr wachsen wir zusammen. Ein guter Ort der Integration ist die Arbeitswelt. Da haben wir immer am wenigsten Probleme gehabt.
Und außerhalb der Arbeitswelt?
Süssmuth: Dieses Land hat 2015 bewiesen, dass die Menschen nicht nur für sich und ihre eigenen Interessen leben. Da wurden nicht abwehrend die Hände zusammengeschlagen, sondern es gab so etwas wie Willkommen. Jetzt überlegen wir nur noch, wie wir abwehren, und das könnte die falsche Wegweisung sein. Ich zitiere einen früheren portugiesischen Kommissar der Europäischen Union, António Vitorino, der auch heute noch sehr engagiert ist und immer gesagt hat: Schafft in euren Gemeinden Runde Tische, sucht Orte, an denen ihr mit den Menschen Probleme diskutiert, nehmt sie ernst, versucht Antworten zu geben und sagt auch, welche Antworten ihr noch nicht geben könnt. Und sehen Sie, wenn wir Revue passieren lassen, was in unseren Kommunen passiert ist, dann wünschte ich mir mehr öffentliche Verbreitung der vielen, vielen erfolgreichen Projekte, wo Menschen es ermöglicht haben, dass gelingt, wovon wir dachten, dass es gar nicht gelingen kann.
Sie sind also nach wie vor für ein Einwanderungsgesetz?
Süssmuth: Ja.
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