Erlebnisarchitektur soll nach Vorstellungen von Verkaufspsychologen zum Geldausgeben verleiten und dennoch Wohlgefühl verschaffen. Die Rechnung geht nicht immer auf. Von Karin Leydecker
Direkt hinter der Rheinbrücke vom badischen Iffezheim beginnt Frankreich. Und direkt hinter der Grenze steht ein elsässisches Geisterdorf. Eine martialische Stadtmauer schützt seine pittoresken Häuschen und Gassen, und wer hinein will, muss ein mächtiges Stadttor passieren. Abends wird das Stadttor geschlossen, und dann ist das Dorf menschenleer.
Dieses neue Dorf in der Nähe der Nähe der Ortschaft Roppenheim lebt nur am Tag und dient nur einem einzigen Zweck: Markenhersteller wie Nike, Desigual oder Mizuno verkaufen dort ihre Textilien aus vergangenen Kollektionen mit Abschlägen von bis zu 70 Prozent. Die spanische Betreibergesellschaft Neinver und der holländische Investor MAB Development sind für dieses Retortenkind namens "Roppenheim The Style Outlets" verantwortlich.
750 Bäume wurden gepflanzt, ein künstlicher See und ein riesiger Parkplatz angelegt und 27 000 Quadratmeter Verkaufsfläche in den kleinen Häuschen des Kulissendorfes vorbereitet. Stilistisch ist dieser am elsässischen Weinstraßen-Städtchen Obernai orientierte Fassadenzauber eine Bricolage aus Barock, Renaissance, Elsässer Fachwerk und echtem Vogesenstein.
300 Euro pro Besuch
Ganz typisch: Alle Shops sind im Erdgeschoss. Die Stockwerke darüber samt Dach mit den niedlichen mit Biberschwanz gedeckten Gauben - alles leer, alles fake. Echt ist nur der Gewinn: Im Schnitt gibt ein Schnäppchenjäger etwa 300 Euro pro Besuch im Outlet-Center aus. Bei einem Potenzial von 8,4 Millionen Menschen in der Grenzregion Elsass, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz mit den Städten Straßburg, Karlsruhe und Baden-Baden rechnen die Betreiber mit zwei Millionen Besuchern im Jahr.
Und so sitzt man denn bei der großen Fontäne am Platz. Alles neu, alles bunt und alles wie unter einer aseptischen Käseglocke. "Cosy", sagt die Geschäftsführerin Mayte Legeay zu dieser artifiziellen Urbanität. Irgendwie ist da etwas von imaginärer Heimat, von Kindheitserinnerung und von Sorglosigkeit. Irgendwie alles ein bisschen sentimental verschwommen, so wie das allgegenwärtige Softeis.
Es ist einfach, über Factory-Outlet-Center zu lästern. Über die mangelnde Authentizität dieser Wohlfühlbühnen und über das Geschäft mit einer infantilisierten Gesellschaft, die Shoppen zum Lebensziel erklärt. Natürlich dient die emotionale Kulissenarchitektur nur dazu, Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Aber beim entspannten Ausflug mit Shoppinghintergrund lässt man sich offenbar gern abzocken.
Fabrikverkauf war einmal
Diese Factory-Outlet-Kultur hat ursprünglich ganz bescheiden als Fabrikverkauf begonnen. Damals hieß das Warenabgabe zu reduzierten Preisen an der Hintertür oder in baulichen Provisorien und hatte das Image von zweiter Wahl und angeschmuddelten Unterhemden. Heute vollzieht sich der preisreduzierte Sonderverkauf von Textilien, Sportartikeln und Schuhen diverser Markenhersteller im Factory-Outlet-Center. Das klingt viel besser, und die Ware ist auch viel besser baukünstlerisch verpackt.
Die Verpackungsentwürfe stammen meistens von international agierenden Marktstrategen, die im großen Stil zentral planen, realisieren, vermarkten und verwalten. Führend im europäischen Geschäft sind Betreiber wie McArthur-Glen, Value Retail oder Neinver; sie managen zusammenhängende Flächen ab 5000 Quadratmeter. Der deutsche Markt ist von Factory-Outlet-Betreibern heiß begehrt, denn er ist der größte Zielmarkt von Markenherstellern. Gleichzeitig aber sorgt die restriktive regionalplanerische Genehmigungspraxis in Deutschland für Vorlaufzeiten von bis zu zehn Jahren. Aber der Markt brummt dennoch: Wertheim Village, Baden-Württemberg, verzeichnet für das Jahr 2011 rund 2,2 Millionen Besucher, und das Ingolstadt Village, Bayern, ist besonders bei Kunden aus den Arabischen Emiraten beliebt, die zwischen Neuschwanstein und Zahnarzttermin mal eben noch eine Shoppingtour einschieben wollen. Wenn der deutsche Standort nicht klappt, weichen die Entwickler in den Grenzbereich aus: Beste Beispiele sind das holländische Outlet Roermond hinter der deutschen Grenze, und natürlich das elsässische Roppenheim.
Große Verlierer sind kleine Städte und Mittelzentren im Dunstkreis eines Factory-Outlet-Centers, denn die übermächtige Konkurrenz ruiniert Einzelhändler und vernichtet damit Arbeits- und Ausbildungsplätze. Das Ausbluten der Innenstädte mit Leerständen und vordringenden 1-Euro-Shops ist die Folge.
Musterbeispiel für eine solche Verödung ist die Stadt Zweibrücken in Rheinland-Pfalz, die dem Lockruf von vielen neuen Arbeitsplätzen durch das stadtnahe The Style Outlets erlag. Auch das erhoffte finanzielle Plus durch zusätzliche Touristen in Zweibrücken kam nicht. Außerdem zeigen Studien, dass der durchschnittliche Outlet-Shopper keine Ausflüge in die Region macht, sondern mit seinen Schnäppchen direkt nach Hause fährt.
In der imaginären Urbanität des Outlet-Centers erwartet der Kunde eine exzellente Warenmischung aus Luxusmarken und dem Genuss-Segment Essen und Trinken. Billig geht gar nicht, das Ambiente muss stimmen. Beim 2001 errichteten Outlet Zweibrücken hat man mit viel Glas und Stahl auf die transparente Moderne gesetzt, aber das ist schon ein Auslaufmodell. Angesagt ist der Village Style. Diese regional inspirierte Stimmungsarchitektur funktioniert durch stereotype Stilmischung auf der Basis einer idealen Kleinstadt um 1900 mit Marktplatz, Hauptstraße und Stadttor. Ganz wichtig bei dieser subtil von Pathosformeln durchtränkten Entertainment Architecture ist der Zuckerguss in weiblichen Farben - vorwiegend in Pastell. Auch jugendstilige Lineamente in gebrochenem Weiß werden gern zur Deko genommen. Das macht das Herz weich und sanft und bereit zur Begegnung mit der Warenwelt in modern und labelgerecht designten Shops zu ebener Erde.
Vier Stunden gut gelaunt shoppen
Nein, Treppen steigen muss hier niemand. Der Gast soll es bequem haben und sich permanent gut fühlen. Nach britischen Erhebungen wandelt jeder Smart-Shopper etwa zwei Stunden im Outlet-Center herum. Mit Restaurantbesuch und Kaffeepause steigert sich das auf rund vier Stunden. Wie funktioniert das?
Die Soziologie des Shoppens erklärt das so: Der Mensch ist im Prinzip einfach gestrickt. Er sieht zwar die Künstlichkeit dieser Welt, aber es stört ihn nicht, weil sie ihm Geborgenheit schenkt. Die Outlet-Welt ist hell, sauber, sicher und freundlich. Es nervt kein Penner, und die große Politik bleibt draußen. Oberstes Gesetz ist die Ordnung, die sich in der Hierarchie des Raumes und der klaren Wegeführung spiegelt. In diese Ordnung fühlt sich der Käufer positiv integriert und genießt jeden Einkauf als echtes Erlebnis.
Nach den Studien der Gesellschaft für innovative Marktforschung (GIM) ist Einkaufen heute grundlegender Lebensbestandteil des Menschseins in der modernen Konsumgesellschaft. Frei nach René Descartes heißt das: Ich shoppe, also bin ich! Selbstverständlich arbeiten die Investorenberater der Factory-Outlets geschickt mit den Erkenntnissen der Wissenschaft und entwerfen die "local structure of feeling" je nach Standort neu.
Zuckertorten-Idylle
So hat sich das italienische Designer-Outlet Serravalle Scrivia als piemontesisches Dorf verkleidet, und das österreichische Parndorf Outlet zieht mit Zuckertorten-Farben alle Register der k.u.k.-Monarchie.
Ab diesem Monat lockt das Factory-Outlet-Center Neumünster vor den Toren Hamburgs mit Luxus- und Lifestyle-Artikeln auf 20 000 Quadratmetern Verkaufsfläche. Bei dieser Freiluft-Mall mit charmanten Einkaufsgassen hat man mit genormter Backsteinromantik und weißen Balustraden tief in die dänisch-norddeutsche Stilkiste gegriffen. Vom zentralen Platz sieht man gut, dass all die kleinen Häuschen im Village-Style obenrum ganz und gar hohl sind. McArthur Glen hat 120 Millionen Euro investiert und erwartet etwa zwei Millionen Besucher jährlich. Neumünster will zusätzlich ausländische Touristen abgreifen, die zu Hause beim Reiseveranstalter die Shopping-Tour als integralen Bestandteil ihrer Urlaubsreise buchen. Chinesen und Russen sind besonders willkommen, denn sie geben laut Global Blue das meiste Geld für Luxusgüter aus.
Aber der Sättigungsgrad ist noch nicht erreicht. In den nächsten Jahren werden überall in Deutschland - in der Lüneburger Heide, bei Leipzig und Duisburg - weitere solche Einkaufs-Oasen entstehen. Manche auf der grünen Wiese, manche in Stadtnähe. Probleme sind programmiert. Für einige Factory-Outlet-Center im Ruhrgebiet werden sogar Wohnanlagen abgerissen. Was geschieht mit den dann heimatlosen Mietern? Die dürfen zum Trost bummeln gehen.
Die Lage ist immer das A und O beim Outlet-Center: Etwa drei ...
Die Lage ist immer das A und O beim Outlet-Center: Etwa drei Millionen Menschen sollen innerhalb einer Autostunde zum Potemkinschen-Shoppingdorf gelangen können.
Ideal für die Planer ist die grüne Wiese im Umkreis großer Städte. Dort stimmt das Einzugsgebiet, und die Infrastruktur ist schon vorhanden.
Aber hohe Verkehrsströme und Emissionen sind die Folge, extreme Zersiedlung der Landschaft und ökologische Schäden durch Versiegelung der Böden. ley
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