Natur - Mit dem Baumdenkmal verbinden viele Altriper persönliche Erinnerungen / Kulisse einer Bluttat im 19. Jahrhundert

"Retzer-Eiche" muss weichen

Von 
Michaela Roßner
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Der einst stolze Baum macht heute einen traurigen Eindruck: Die "Retzer-Eiche" ist vom Schwefelporling zerfressen und wird noch vor dem Winter gefällt. Vor dem imposanten Baum spielte sich im 19. Jahrhundert eine Bluttat ab.

© Venus

Altrip. Über 150 Jahre ist sie alt - nun muss die "Retzer-Eiche" im Süden Altrips, am Rheinkilometer 412, gefällt werden. Der Zahn der Zeit, vor allem aber auch ein Pilz haben dem mächtigen Naturdenkmal schwer zugesetzt. Für die Altriper heißt es Abschied nehmen von einem Baum, mit dem viele Erinnerungen und eine Gruselgeschichte verbunden sind.

"Als ich Kind war, gehörte es sonntags zum Pflichtprogramm, einen Spaziergang mit der Familie zu machen", erinnert sich beispielsweise der Altriper Bürgermeister Jürgen Jacob. Dem Jungen seien die Ausflüge eher verhasst gewesen. "Wir laufen noch bis zur ,Retzer-Eiche', dann kehren wir um", hieß es regelmäßig - am Baum war endlich die Hälfte der Wegstrecke erreicht.

Witwer mit sieben Kindern

Jacob weiß auch, dass "mancher Altriper hier seiner Gerda oder seiner Margot den ersten Kuss gegeben hat." Irgendwie habe der mächtige Baum, dessen Stamm 3,74 Meter Umfang besitzt, eine mythische Ausstrahlung. "Etwas ganz Besonderes" ist die Eiche, weiß auch Alois Eitl, der Vorsitzende des Heimat- und Geschichtsvereins Altrip: "Ein Treffpunkt der Liebespaare."

Wobei die Altriper eher vom "Ritzer-Boam" sprechen. In alten Geschichtsbüchern gibt es beide Schreibweisen. Inzwischen sei aber verbrieft, dass "Retzer-Eiche" stimme. Hier kommt die unheimliche Komponente der Baumgeschichte ins Spiel: Denn die Eiche ist Tatort einer Bluttat. Einst hat hier der gelernte Schneider Nikolaus Retzer die ihm gerade erst angetraute Altriperin Eva Katharina Wersch erschlagen.

Jacob hat den Kriminalfall in alten Standesbüchern und Familienaufzeichnungen recherchiert. Der aus Edenkoben stammende Retzer (geboren 1849) war im November 1883 Witwer geworden. Seine 33 Jahre alte Frau Regine starb vermutlich im Kindbett und ließ ihn mit sieben Kindern allein.

Kein tapferer Schneider

Bereits im März 1884 heiratete er wieder - vermutlich unter dem großen Druck, seine Kinder versorgen zu müssen. Knapp fünf Monate später soll der gar nicht tapfere Schneider seine neue Gefährtin unter die Eiche gelockt und erschlagen haben. In den Rhein geworfen, landete die Leiche vier Tage später in Worms an. In der Domstadt ist die Altriperin Katharina Wersch auch beerdigt.

Retzer wurde vom Schwurgericht Zweibrücken wegen Totschlags verurteilt. "Hätte man ihm Mord nachgewiesen, wäre er sicher einen Kopf kürzer gemacht worden", geht Jacob auf die damals übliche Todesstrafe ein.

So aber saß Nikolaus Retzer zehn Jahre im Gefängnis. Für seine sieben Kinder musste derweil die alte Heimat Edenkoben aufkommen. Danach führte Retzer offenbar ein neues Leben. Als er am 3. November 1918 "mittags um sieben Uhr" in einem Spital sein Leben aushauchte, hinterließ er eine Witwe.

"Der Baum hat schon viel mitgemacht", verweist Jacob auf Blitzeinschläge und Parasitenbefall. Bereits vor sechs Jahren wurde eine Fällung diskutiert, 2010 sollte ein Radikalschnitt der Krone den 17 Meter hohen Baum retten. Doch nun genehmigt das Forstamt Pfälzer Rheinauen, dass die Säge anrückt. Vor allem aus Gründen der Verkehrssicherung, denn an dem Baum kommen viele Spaziergänger vorbei. "Der Stamm ist vom Schwefelporling befallen", bestätigt Forstamtsleiterin Monika Bub die Entscheidung. Dieser Pilz sei sehr häufig anzutreffen. Generell würden Bäume im Auwald wegen der luxuriösen Wasserversorgung "in der Regel sehr dick, aber nicht wirklich alt". In anderer Umgebung könnte eine Stieleiche nämlich locker 300 bis 400 Jahre alt werden.

Eine Ersatzpflanzung wird es nicht geben: "Eine junge Eiche hätte hier keine Chance", weiß Jacob.

Doch in Kooperation mit dem Heimat- und Geschichtsverein soll nun eine Möglichkeit gefunden werden, "das Gedenken an den Baum zu erhalten".

Redaktion Redakteurin Metropolregion/Heidelberg

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