Zwischen Leben und Tod - Pfarrerin Annelie Hesse weiß als Seelsorgerin, worauf es Kranken und Sterbenden ankommt

"Gott hält die Fäden in der Hand"

Von 
Uwe Rauschelbach
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Das Leben ist unverfügbar: Pfarrerin Annelie Hesse plädiert für eine am Schutz des Lebens orientierte Sterbehilfe-Debatte.

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Lampertheim. Annelie Hesse ist evangelische Pfarrerin und im Seelsorgedienst für Kranke und Sterbende tätig. Sie bildet ferner ehrenamtliche Helfer aus, die sich im Besuchsdienst engagieren, um Menschen in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen oder zu Hause begleiten zu können.

Frau Hesse, wovor haben Menschen Angst, wenn sie ans Sterben denken?

Annelie Hesse: Dass sie Schmerzen erleiden müssen. Dass sie nicht mehr über sich selbst bestimmen können. Dass sie hilflos werden und sich anderen ausliefern müssen. Besonders der Verlust von Selbstständigkeit macht Angst. Selbstständigkeit ist ein hoher Wert in unserer Gesellschaft. Vom Glauben her betrachtet ist es jedoch so, dass wir vom ersten Atemzug unseres Lebens an in Beziehungen stehen und auf andere angewiesen sind.

Muss man es nicht ernst nehmen, wenn Menschen die Entscheidung zu sterben selbst treffen wollen?

Hesse: Der Wunsch ist sehr ernst zu nehmen, besonders wenn Menschen ihn trotz intensiver guter Begleitung in langen Leidenszeiten äußern. Bei Menschen, die diesen Wunsch schon in guten Zeiten äußern, würde ich fragen: Was ist denn das Schlimme an der Vorstellung, etwas nicht vollständig kontrollieren zu können, den Tod erwarten zu müssen? Oft kommen da Ängste hervor: die Angst, von den Nächsten verlassen zu werden, das eigene Haus aufgeben zu müssen, auf Pflege angewiesen zu sein. Wenn man diese Ängste anspricht und gemeinsam neue Lösungen finden kann, verschwindet unter Umständen auch der Eindruck, die Kontrolle über den letzten Abschnitt seines Lebens zu verlieren.

Ist es nicht auch eine Frage der Würde, sterben zu dürfen, ohne vorher leiden zu müssen?

Hesse: Die gut entwickelte Palliativmedizin bietet für die Schmerzkontrolle heute sehr viele Möglichkeiten. Beim Wunsch nach Sterbehilfe geht es oft eher darum, dass dem Begriff von Würde der Gedanke an selbstständige Lebensführung zugrunde liegt. Aber es ist möglich, ein Leben in Würde zu führen, auch ohne diese Form der Selbstständigkeit. Es gibt viele Menschen, die nicht selbstbestimmt leben und für sich sorgen können und vor Gott Wert und Würde haben. Es ist unsere menschliche Aufgabe, sie ihre Würde mit der entsprechend guten Behandlung fühlen zu lassen.

Die Kirche sieht Gott als Herrn der Schöpfung an, über die der Mensch nicht verfügen kann. Damit wird dem Menschen auch die Bestimmung über sein eigenes Sterben entzogen. Ist das nicht unbarmherzig?

Hesse: Wenn wir aufgeben, davon zu sprechen, dass das Leben unverfügbar ist, werden sich Türen öffnen, die auch Unheilvolles verbergen. Angefangen von der Selektion vorgeburtlichen Lebens bis zur Frage, wer dann eigentlich darüber entscheidet, was lebenswert ist oder nicht. Nach christlicher Überzeugung hält Gott die Fäden dieser Entscheidung in der Hand. Der Mensch ist sozusagen Gottes Statthalter. Das ist ein großer Auftrag und eine große Verantwortung - aber auch eine große Freiheit. Damit müssen wir behutsam umgehen.

Verstößt Sterbehilfe jedweder Form, selbst wenn sie gewünscht wird, nicht gegen das fünfte Gebot "Du sollst nicht töten"?

Hesse: Die Zehn Gebote sind Leitlinien, die Gott uns mitgegeben hat, damit es uns gut geht. Insofern erkennt unser Recht in der aktiven Sterbehilfe auch ein Strafdelikt. Schwieriger zu beurteilen ist es in jenem Grenzbereich, in dem ein Mensch trotz intensiver Beratung und Betreuung bei seinem Sterbewunsch bleibt, aber nicht mehr in der Lage ist, diesen Suizid auch selbst zu begehen.

Ist die moderne Medizin Segen oder Fluch?

Hesse: Sie ist segensvoll und unheilvoll zugleich. Segensvoll, weil viele Menschen dank der Medizin länger leben können. Aber sie ist unheilvoll, weil sie Menschen vor Entscheidungssituationen stellt, die uns schlichtweg überfordern. Ich kann nicht wirklich vorausplanen, was ich wünschen werde, wenn es so weit ist.

Kann eine liberal verstandene Sterbehilfe nicht auch missbraucht werden?

Hesse: Interessanterweise hat die Möglichkeit in Ländern, in denen Sterbehilfe zugelassen ist, nicht dazu geführt, dass die Zahlen nach oben geschnellt sind. Menschen, die wissen, dass sie ihrem Leben mit medizinischer Unterstützung ein Ende setzen könnten, machen davon nicht automatisch Gebrauch. Für sie ist das eher eine Art seelischer Entlastung. Meine große Befürchtung ist aber, dass Menschen unter einen Rechtfertigungsdruck kommen, ihrem Leben ein Ende zu setzen, weil andere finden, es sei nicht mehr lebenswert, oder weil die Familie Druck macht.

Wie lauten Ihre Erfahrungen mit unheilbar Kranken?

Hesse: Ich habe noch nie erlebt, dass jemand, der nur noch drei Monate zu leben hatte, den Wunsch nach Tötung geäußert hat. Diese Menschen haben vor allem den Wunsch nach Schmerzfreiheit und dass sie möglichst noch viele Dinge ordnen können. Ich denke an jemanden, der seiner Frau bis zuletzt helfen wollte, indem er mit ihr die Steuererklärung durchgegangen ist.

Was erhoffen Sie sich von der aktuellen politischen Debatte?

Hesse: Meine Hoffnung wäre, dass die Bedeutung einer guten Pflege erkannt und politisch alles getan wird, um die Pflegeberufe aufzuwerten. Aber ich habe die Befürchtung, dass das nicht geschieht. In den vergangenen Jahren hat der Arbeitsdruck in den Pflegeberufen zugenommen, so dass viele das Gefühl haben, eine am Menschen orientierte Behandlung sei kaum noch möglich. Deshalb haben Menschen Angst davor, in eine solche Situation zu geraten.

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