Viernheim. "Es braust ein Ruf wie Donnerhall". Das populäre Vaterlandslied, das gleich nach der Nationalhymne erklingt, schallt dem Zug hinterher, der aus dem Bahnhof in der Ernst-Ludwig-Straße (heute TiB in der Friedrich-Ebert-Straße) rollt. In den Waggons sitzen die ersten Kolonnen von Soldaten, die am Morgen des 2. August 1914, vor 100 Jahren, in den Krieg ziehen. 78 Viernheimer haben sich spontan freiwillig gemeldet, als tags zuvor, 20.30 Uhr, am Rathaus die Bekanntmachung des Kriegszustands angeschlagen wird. Trompetenstöße machen der Bevölkerung den Ernst der Stunde deutlich, wie Rektor Hans Mayr in seiner Chronik der Stadt Viernheim berichtet.
Viele Frauen und Kinder sind überzeugt davon, ihre Männer, ihre Brüder, ihre Söhne bald wiederzusehen. Bis Weihnachten, so der Tenor, sind alle wieder zu Hause. Und so werden die ersten Siegesmeldungen - der problemlose Zug durch Belgien, die Schlacht bei Mühlhausen, der Fall Lüttichs - bejubelt, wie Mayr festhält: "Jedes Mal läuteten unsere Glocken, verkündeten laut den Sieg unserer vorwärtsdrängenden Truppen. Und jedes Mal bekam unsere Schuljugend zu ihrer hellen Freude einen schulfreien Tag."
Erste Tote am 22. August
Doch die Siegesbotschaften werden seltener, verstummen, der Begriff vom Stellungskrieg nimmt Gestalt an, bekommt Namen, Gesichter: Georg Hanf, Michael Hoock, Johann Simon Lammer, Johann Nägel, Georg Pfenning, Valentin Wunderle, Joseph Jöst. Sie sind die ersten Viernheimer, die sterben - am 22. August 1914, bei Maissin in Belgien.
Nach vier grausamen Jahren und insgesamt 17 Millionen Toten in ganz Europa und den USA hat auch fast jede Familie des südhessischen 6000-Seelen-Dorfs Opfer zu beklagen: Von den rund 2000 Viernheimern, die in den Krieg gezogen sind, sterben 345 Männer einen grausamen Tod, 19 bleiben vermisst, Unzählige kehren schwer verwundet heim, annähernd 300 sind zum Kriegsende in Gefangenschaft.
Am 1. August 1914 ahnt freilich noch niemand, wie schrecklich alles werden wird. Doch dass an Weihnachten längst nicht alles vorbei sein wird, zeigt sich bald. Davon zeugen die Feldpostbriefe aus den Monaten Dezember 1914 bis Januar 1915, die das Viernheimer Stadtarchiv ausgewertet hat. Es handelt sich überwiegend um Dankesschreiben an die Gemeinde, die von gesammeltem Geld "Liebesgaben" vor allem in Form von Nahrungsmitteln gekauft und an die Front geschickt hat. So schreibt Georg Bähr am 22. Dezember 1914 an die Gemeindeverwaltung: "Hoffentlich werden wir bis Ostern hin wieder zu Hause sein. Das hätte sich keiner vorgestellt, dass es so lange dauern würde."
Die Bemühungen seitens der Gemeinde, den Frontsoldaten etwas Gutes zu tun, lassen sich in den Akten nachvollziehen - in Form von Lieferantenrechnungen zweier Mannheimer Geschäfte vom November 1915: So lieferte die Firma Faßbender 48 Pfund Gebäck und die Firma Hermann Hafner 30 Dosen Delikatesswürstchen.
So sehr die Soldaten sich über die "Liebesgaben" aus der Heimat auch freuen - Feststimmung mag keine aufkommen. Der Gefreite Gustav Bauer, der Strümpfe erhalten hat, schreibt: "Wir befinden uns gegenwärtig im Argonnenwald in den Schützengräben, haben sehr schlechtes Wetter. Wenn wir auch noch so gute Stiefel haben und man immer im Wasser und Schmutz herumläuft, so sickert das Wasser doch durch, und man ist glücklich, wenn man die Strümpfe wechseln kann." Einen dringenden Wunsch - der fast vier Jahre lang nicht in Erfüllung geht - äußert Sanitäts-Unteroffizier Michael Thomas am 11. Januar 1915: "Möchte ein baldiger Frieden uns aus dieser Riesensaat von Blut und Tränen entstehen."
Ehrenfriedhof entsteht
Die Soldaten, die lebend zurückkehren, kommen in kleinen Gruppen oder einzeln. "Schon aus diesem Grunde", so Rektor Mayr in seiner Chronik, konnte die Gemeinde ihnen "keinen würdigen Empfang" bereiten: "Keine Ehrenpforte, kein öffentliches Willkommen." Nur eines geschieht: An der Lorscher Straße entsteht bis zum Dezember 1924 ein Ehrenfriedhof mit dem schlichten Denkmal eines betenden Kriegers. Auf dem Sockel, auf dem er kniet, sind die 364 Gefallenen und Vermissten verzeichnet. Doch die Zeit setzt dem Sandstein zu: Neun Jahrzehnte danach ist von den Namen der Gefallenen fast nichts mehr zu erkennen.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/viernheim_artikel,-viernheim-fanfaren-begleiten-die-soldaten-_arid,816134.html