November-Pogrome - Dr. Reiner Becker betont bei Gedenkfeier die Verantwortung des Einzelnen

Historiker sieht rechte Tendenzen im Alltag

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Dr. Reiner Becker sprach bei der Gedenkfeier auf dem Bendheim-Platz.

© Funck

Bensheim. Er fühle sich nicht recht wohl als Redner einer Gedenkfeier anlässlich des Jahrestags der Novemberpogrome. Dr. Reiner Becker hat auch die restlichen 364 Tage des Jahres mit Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass zu tun.

Für den Landeskoordinator des "Beratungsnetzwerks Hessen" ist Rechtsextremismus weitaus mehr als böse Erinnerung und bloße Mahnung - sondern gefährlicher Alltag.

"Wir müssen unseren Blick schärfen", sagte der Mitarbeiter der Universität Marburg auf dem Bendheim-Platz, wo in der Nacht auf den 10. November 1938 die Bensheimer Synagoge zerstört wurde. In Deutschland markierte dieser Tag den Beginn der systematischen Verfolgung der europäischen Juden. Dass die Pogrome ein Fanal waren, sei erst im Rückblick bewusst geworden, so Becker vor über 60 Teilnehmern. Dem Leuchtfeuer ging ein fast sechsjähriger Prozess voraus. "Schuld sind auch die, die vor 1938 weggeschaut haben", warnte Becker vor einer ignoranten Haltung, die rechte Tendenzen duldet und ihnen so alle Freiheiten öffnet. Damals wie heute.

Schuld sind auch die Zuschauer

"Wir sind das Publikum", betonte der Redner die Verantwortung jedes Einzelnen. Der Zuschauer ist keineswegs passiv, sondern kann ein begünstigender Faktor sein für ein neues rechtes Weltbild, das es sich in der Mitte der Gesellschaft gerade sehr gemütlich macht.

Die Zahlen, die Becker mitgebracht hatte, sind beunruhigend: Fast 18 Prozent der Deutschen denken, dass Juden zu viel Einfluss genießen. 40 Prozent meinen, dass die meisten Juden versuchen, aus der Verfolgung durch die Nazis einen persönlichen Vorteil zu ziehen.

"Die nationalsozialistische Ideologie ist weder aus dem Nichts entstanden noch ist sie 1945 über Nacht verschwunden", so Reiner Becker. Die Nachwirkungen seien bis heute spürbar, nicht nur in rechten Kameradschaften und politischen Parteien, sondern auch am Stammtisch, im Verein und bei der Familienfeier. Ein Wegschauen unterstütze den Prozess und rolle letztlich einer gefährlichen Entwicklung den roten Teppich aus.

Darüber hinaus gehe es darum, so Becker, alte Tabus zu überwinden und die Sprachlosigkeit zu beenden. Das Schweigen über Unangenehmes dürfe nicht zum kollektiven Prinzip werden. Er zitierte den Germanisten Wolfgang Frühwald, der 2007 in seiner Laudatio auf den israelischen Historiker Saul Friedländer den stereotypen Kommentar zur Vernichtung der Juden angesprochen hatte: "Wer es nicht mehr hören kann, der hat es noch nie wirklich gehört." tr

Von der Aktualität eingeholt

Bensheim. Die Gedenkfeier wurde von tagesaktuellen Ereignissen flankiert: Peter E. Kalb von der Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger zitierte eine Meldung aus dem BA vom Samstag, nach der vermutlich rechtsorientierte Täter mit zwei "Stolpersteinen", die an NS-Opfer erinnern, das Rathaus in Seeheim-Jugenheim demoliert haben.

Vor einem Jahr wurden die Steine in Griesheim aus dem Pflaster gebrochen. Zur gleichen Zeit hatte ein Seeheimer Gemeindevertreter im Vorfeld einer Abstimmung über eine "Stolperstein"-Verlegung einen rechtsradikal motivierten Drohbrief erhalten.

Auch in Weiterstadt wurden sieben Steine des Kölner Bildhauers Gunter Demnig gestohlen. Positiv kommentierte Kalb die Erinnerungskultur in Bensheim, die sich in vielen Facetten äußere. Auch im Stadtgebiet sind 24 Gedenksteine ins Pflaster zementiert. Weitere sollen dazu kommen. Stadtrat Kalb hatte die Aktion angestoßen, im Juni 2011 wurden die ersten Exemplare verlegt. "Wir müssen Orte, Täter und Opfer beim Namen nennen."

Ein weiterer aktueller Fall ist das Kapitel Ludwig Seehaus (wir haben berichtet). Zwischen 1933 und 1934 leitete der damals 36-Jährige das KZ Esterwegen III. Er war für Morde an Häftlingen und Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung verantwortlich. Für die SS rekrutierte Seehaus Zwangsarbeiter in Russland. Sein Name steht auf einer Ehrentafel für gefallene Soldaten auf dem Schwanheimer Friedhof. Das Stadtparlament wird in den nächsten Tagen sehr wahrscheinlich entscheiden, dass der Name entfernt wird.

Bürgermeister Thorsten Herrmann sagte im Rahmen der Gedenkfeier, dass die heutige Generation Verantwortung dafür übernehmen müsse, dass die Opfer von damals nicht vergessen werden. Der Anspruch des "Nie wieder" müsse zum kollektiven Bewusstsein werden.

Die Veranstaltung wurde wie immer organisiert von der Stadt Bensheim mit der Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger, unterstützt vom Auerbacher Synagogenverein und dem Kreisverband der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW.

Musikalisch umrahmt wurde die Gedenkstunde von jüdischen Liedern, vorgetragen von Blandine Bonjour und Bernd Köhler an der Gitarre. tr

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