Bensheim. Die Kranzniederlegung musste in diesem Jahr coronabedingt vor denkbar kleinem Publikum stattfinden. Umso mehr Menschen haben nun aber Gelegenheit, terminunabhängig die Reden zu verfolgen, die aus Anlass der jährlichen Gedenkfeier zur Synagogenzerstörung in der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 am Dienstag gehalten und ins Netz gestellt wurden.
Das etwa eine Viertelstunde lange Video mit den Redebeiträgen von Bürgermeister Rolf Richter, Peter E. Kalb (Stadtrat und Vorsitzender der Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger und Professor Joachim-Felix Leonhard als Festredner ist unter geschichtswerkstatt-kindinger.de und auf der Webseite der Stadt Bensheim abrufbar.
Der Bürgermeister erklärt, die jüngsten Ereignisse in Wien führten wieder einmal vor Augen, wie zeitlos das jährliche Gedenken sei. Es gelte, dem Ungeist, der bis heute seine Anhänger finde, den Nährboden zu entziehen und sich auf die Zukunft auszurichten. „Wir alle müssen für Respekt und Toleranz eintreten“, ruft Rolf Richter dazu auf, sich für die Werte der Mitmenschlichkeit und der Gewaltfreiheit einzusetzen. Er appelliert an die Bürger, die Gedenkstätte auf dem Bendheim-Platz zu besuchen und dort – allein – innezuhalten.
„Zukunft braucht Erinnern“, unterstreicht auch Peter E. Kalb in seiner Rede die gesellschaftliche Aufgabe des kollektiven Gedenkens. In Erinnerung an den mit seiner Familie aus Bensheim vertriebenen Gerald Rosenstein, der im vergangenen Jahr in den USA verstarb, verliest Kalb eine Passage aus dem Buch „Ein gutes Leben ist die beste Antwort“ des Journalisten Friedrich Dönhoff, der Rosenstein auf einer Reise nach Bensheim begleitet hatte.
In dem Textabschnitt schildert Rosenstein, der bis zur Emigration nach Amsterdam in der Darmstädter Straße 85 gelebt hatte, die nächtlichen Angriffe auf das Haus der Familie im Sommer 1933 – Männer schleichen sich an, werfen Flaschen und schreien herum, setzen die Garage in Brand. Die Polizei reagiert nicht. Die Familie schläft aus Angst auf dem Dachboden. Der Vater eines Klassenkameraden schlägt den Jungen ins Gesicht und beschimpft ihn als „Drecksjuden“. „Was ist nur aus den Bensheimern geworden?“, fragt die Mutter.
In den Erinnerungen Rosensteins sei immer wieder von Angst die Rede, sagt Kalb. „Heute haben bei uns Juden wieder Angst um ihr Leben, genau wie andere Menschen hier, die anders aussehen. Das ist beschämend für unsere Demokratie. Deshalb erinnern wir an den Judenpogrom 1938.“
Bei Auschwitzprozess dabei
Es sei die Aufgabe von uns allen zu verhindern, mit der Erinnerung an den Holocaust die Wiederholung eines solchen Zivilisationsbruchs zu verhindern, lautet ein Appell der Festrede von Professor Joachim-Felix Leonhard. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, mit Artikel 1 hätten die Väter und Mütter des Grundgesetzes einen einfachen Satz formuliert, der immer wieder zukunftsorientiert zum Nachdenken anrege. Gedenken und Erinnerung seien „Gegenstand steten staatsbürgerlichen Bildungsauftrags in die Zukunft hinein“.
Er erinnert in seiner Rede an die ab 1963 vor dem Schwurgericht in Frankfurt geführten Auschwitzprozesse, die er selbst an einem Tag als Schüler miterlebt hat. Die Täter hätten dort stets nur von Befehlen gesprochen, niemals von Gewissen. Die Opfer hätten aber endlich die Chance gehabt, öffentlich zu schildern, was tatsächlich geschah – das sei auch insofern wichtig, als neuerdings Politiker in Hinblick auf die Naziverbrechen von einem „Vogelschiss in der Geschichte“ sprächen.
Leonhard nannte die Aufnahme der Verfahrensunterlagen und Tonbandaufnahmen des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses in das Unesco-Weltdokumentenerbe im Jahr 2017 als bedeutendes Datum für das kollektive Gedächtnis der Welt, nachdem das KZ Auschwitz 1979 zum Welterbe erklärt worden war – erst im selben Jahr war nach langem Ringen Deutschen vom Bundestag auch die überfällige Entscheidung getroffen worden, die Verjährungsfrist für nationalsozialistische Verbrechen aufzuheben.
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