Bensheim. Ein Mann erzählt eine Geschichte. Er erzählt sie so gut, dass die Menschen um ihn herum in den Sog des Geschehens geraten, dass die Worte zu lebendigen Bildern werden. So war es schon, bevor die Schrift erfunden wurde und so kann man Literatur im besten Fall auch heute noch erleben. Eine Gelegenheit dazu bot sich am Freitag im Bensheimer PiPaPo-Theater – und wurde von nur einer guten Handvoll Besuchern wahrgenommen. Diese aber erlebten einen fesselnden, zwei Stunden langen, intimen und intensiven Theaterabend. Und was für einen!
Einziger Akteur war der in der Region auch durch seine Büchner-Stücke bekannte Schauspieler Christian Wirmer mit seinem Programm „Morgen und Abend“, einem „Schauspielmonolog nach einem Roman von Jon Fosse“. Der norwegische Autor ist vor allem durch seine vielfach preisgekrönten Theaterstücke bekannt, die weltweit aufgeführt werden.
Expressive Sprache
In seinem im Jahr 2000 erschienenen Roman „Morgen und Abend“ erzählt er vom Leben eines Fischers an der norwegischen Küste. Christian Wirmer hat die originale Romanvorlage in der deutschen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel für seine Interpretation nur gekürzt, nicht verändert. Die nüchterne bis expressive Sprache mit ihren eindringlichen sinnlichen Beschreibungen und den mitunter wie dahingeschleudert wirkenden Adjektiven hat Wirmer wörtlich beibehalten, bringt sie durch seinen eigenen Sprachduktus eindrucksvoll zum Klingen und eröffnet dem Zuhörer einen guten Zugang zu dem durch fehlende Zeichensetzung und abgebrochenen Sätzen nicht ganz leicht zu lesenden Text.
„Heißes Wasser“ wird ganz am Anfang der Erzählung verlangt. Das erzeugt ein Bild im Kopf, das man aus unzähligen Büchern und Filmen kennt. Ohne viele Worte entsteht so eine Atmosphäre, in der man ganz unmittelbar das Wechselbad der Gefühle eines Vaters beim Warten auf die Geburt nachempfinden und seinen Gedanken über die der Situation gleichermaßen innewohnende Gefahr und Geborgenheit folgen kann. Es geht um die Auseinandersetzung mit Satan und Gott, genauso aber um die dazwischen aufkommenden, ganz banalen Gedanken. Einfache und höchste Fragen im Wechsel, ganz so, wie es im Verlauf des ganzen Abends sein wird.
Erst geboren und schon tot
Endlich ist er also da: Johannes, der lang ersehnte Sohn. Aber gerade erst geboren, ist er auch schon tot. Er wacht als alter Mann in einer einsamen, kalten Kammer auf, freut sich auf Kaffee, Zigaretten und Käsebrot – doch „irgendwie ist kein Gewicht in mir, das ist ja seltsam“. Der Zuschauer ahnt es gleich und es wird am Ende zur Gewissheit: Es ist der Morgen nach der Nacht, in der Johannes gestorben ist.
Der Morgen und gleichdarauf der Abend des Lebens – und alles was dazwischen liegt. Denn die halluzinierende, sterbende Hauptfigur entrollt vor den Zuschauern ein ganzes Leben; erste Liebe, Familiengründung, Freundschaft. Einzig mit Andeutungen und ohne ausschweifende Beschreibungen wird das alles im Kopf des Zuschauers gegenwärtig. Am Anfang des Stücks hat der Zuschauer das Bangen und die Freude des Vaters Ulay miterlebt – im weiteren Verlauf genügt eine Bemerkung des Johannes, um Jahrzehnte des Konflikts heraufzubeschwören: Er und sein Vater hätten es nicht immer so leicht miteinander gehabt.
Mit einer gewissen Nüchternheit
Es ist die Rede vom alten Fräulein Pettersen, das doch zugleich die junge, von den Männern begehrte Anna Pettersen ist. Man erfährt von Erna und den sieben Kindern – von Erna, die vor Johannes gestorben ist, obwohl er immer dachte, es würde einmal anders herum kommen. Und man begegnet Peter, dem Freund, und der tiefen Verbindung der beiden, deren ebenso nüchterner wie zärtlicher Ausdruck das lebenslange gegenseitige Haareschneiden war.
„Das Meer will dich nicht mehr“, sagt Peter am Ende zu Johannes, dem Fischer, und so ist es Peter, der längst verstorbene Freund, der Johannes in den Tod geleitet, tröstend, lockend: „Alles, was du liebst, ist dort“. Tochter Signe findet den Vater in seinem Bett. Er sieht aus, als würde er schlafen.
Süßliche Esoterik und religiöser Kitsch, die im Stoff des Romans durchaus auch angelegt sind, kommen in Christian Wirmers Interpretation nicht zum Zug. Mit einer gewissen Nüchternheit – „es ist weder gut noch schlecht“ – betont er in seiner Interpretation eher das Staunen über das Phänomen des Alterns und die Unbegreiflichkeit der Vergänglichkeit. Wirmer spielt nicht auf der Bühne, sondern im Zuschauerraum. Requisiten, die auf den maritimen Schauplatz hinweisen könnten, hat er mitgebracht. Aber sie stehen achtlos und wie zufällig an der Seite – sie spielen einfach keine Rolle.
Wirmer vertraut ganz auf die Kraft der Sprache und setzt in seinem Spiel geschickt nur wenige atmosphärische Akzente, wie ein unvermitteltes burschikoses Schulterklopfen, hin und wieder ein Grinsen oder ein Blick in die Ferne. Der Schauspieler spricht intensiv und suggestiv, aber er arbeitet dabei mit sparsamsten Mitteln und scheint doch stets ganz greifbar und gegenwärtig.
Wie die Erzählung zwischen Leben und Tod, zwischen den Zeiten und Realitätsebenen oszilliert, so lässt auch Wirmer die Grenzen verschwimmen: zwischen Bühne und Zuschauerraum; zwischen dem gespielten Stück und dem, was sich real im Theaterraum abspielt.
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