Bensheim. Helmuth Rilling zählt weltweit zu den bedeutendsten Bach-Interpreten unserer Zeit. Selbst im Alter von 79 Jahren gelingt es ihm immer wieder, die Faszination seiner Deutung der Werke dieses überragenden Komponisten den Hörern zu vermitteln.
Es ist schon als Glücksfall zu bezeichnen, dass ausgerechnet in Bensheim Rillings letztes Konzert in Deutschland als Leiter der Internationalen Bachakademie Stuttgart stattfinden konnte. Die Kunstfreunde Bensheim verdienen als Veranstalter hierfür Dank.
Letztes Konzert in Deutschland
Für Helmuth Rilling ist wichtig, die Menschen unmittelbar zu erreichen, sie aufzurütteln und zum Nachdenken zu bringen. Das Bensheimer Konzert ist der Beweis dafür, dass ihm diese Absicht zu verwirklichen gelingt. Rilling dirigiert auswendig, wobei er nur mit sparsamen Gesten seinen Willen durchzusetzen versteht. Er bevorzugt frische Tempi, die das lebendige Geschehen unterstreichen.
Dies wurde bereits in dem gewaltigen Eingangschor deutlich, bei dem die Stuttgarter Hymnus-Chorknaben die Choralmelodie übernahmen. Mit dem Text "O Lamm Gottes, unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet" ist hier das Thema der Passion vorgegeben.
Mit Patrick Vogel (Tenor) und Johannes Mooser (Bass) waren die Rollen des Evangelisten und Jesus ideal besetzt. Patrick Vogel verfügt über eine ganz klare Tenorstimme, die er nicht nur mit guter Artikulation als Erzähler einsetzte, sondern auch durchgängig für die Interpretation des Textes geschickt nutzte. Man denke etwa daran, wenn Petrus seinen dreimaligen Verrat tief bereut und der Evangelist dieses innere Geschehen bei seinen Worten "Und ging hinaus und weinete bitterlich" unmittelbar spürbar werden lässt. Beispiele dieser Art ließen sich ständig aufzeigen. Im Gegensatz zu den Secco-Rezitativen des Evangelisten werden Christi Worte von den Streichern untermalt. Diese ausgehaltenen Streicherklänge wirken wie ein Heiligenschein. Sie fehlen nur bei den Worten "Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" in der Sterbeszene, weil hier auch Jesus sterblich ist und dadurch dem Menschen gleicht. Johannes Mooser verfügt über eine in sich ausgewogene klangvolle Bass-Stimme, mit der er sehr überzeugend die Aussagen von Jesus Christus zu deuten verstand.
In den Rezitativen und Arien der anderen Solisten wie auch in den Chorälen des Chors wird das Geschehen aus der Sicht der gläubigen Gemeinde betrachtet. Die Sopranistin Martina Nawrath sang ihren Part mit klangvoller und auch in der Höhe immer weich bleibender Stimme. Die Altistin Lidia Vinyes Curtis gestaltete ihre Arien mit großer Eindringlichkeit und vielfältigem Ausdrucksvermögen. Der Tenor Gene Stenger bewältigte mühelos die vielen koloraturartigen Ausschmückungen in seinen Arien "Ich will bei meinem Jesu wachen" und "Geduld, wenn mich falsche Zungen stechen"(Gambenarie). Auch die Bassisten Modestas Sedlevevicius und besonders Simon Robinson überzeugten durch gute musikalische Gestaltung und Textdeutung. Ein besonderes Lob gilt den hervorragenden Instrumentalsolistinnen und -solisten.
Sehr eindrucksvoll gelangen die dramatischen Volksszenen. Hier wird das Geschehen nicht erzählt, sondern unmittelbar dargestellt. Man denke beispielsweise an die Szene, in der das Volk, das von den Hohenpriestern und Ältesten dazu überredet worden ist, um die Freilassung des Mörders Barrabas zu bitten. Die Einmütigkeit zeigt sich in dem skandierten Namen "Barrabam", wobei das Unrecht dieser Entscheidung zugleich in der schreienden Dissonanz des verminderten Akkords unüberhörbar wird. Als Pilatus wissen will, was er mit Jesus machen soll, ruft das aufgehetzte Volk: "Lass ihn kreuzigen". Hier wird das Kreuz in der Figur förmlich nachgezeichnet. Der polyphone Aufbau von der Tiefe zur Höhe hin wirkt wie eine Steigerung. Helmuth Rilling stellte diese kurze Szene sehr plastisch das und steigerte sie bei der späteren um einen halben Ton nach oben verschobenen Wiederholung noch durch eine Tempobeschleunigung. Ein weiterer Höhepunkt der Dramatik geschieht nach dem Kreuzestod durch die Darstellung des unheimlichen Erdbebens im Orchester, das zu der Erkenntnis führt: "Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen".
Helmuth Rilling gelang es in solchen Momenten immer wieder, die Betroffenheit den Hörer unmittelbar mitfühlen zu lassen. So wurde diese Aufführung der Matthäus-Passion zu einem ganz großen Ereignis, das noch lange nachwirken wird. Karin Pfeifer
Helmuth Rilling arbeitet in der Internationalen Bachakademie ...
Helmuth Rilling arbeitet in der Internationalen Bachakademie Stuttgart mit jungen Musikern zusammen, deren Höchstalter auf 28 Jahre begrenzt ist.
Das "Junge Stuttgarter Bach-Ensemble" (JSB) setzt sich aus ausgewählten Sängern und Musikern zusammen, wobei ganz verschiedene Nationalitäten vertreten sind. Entscheidend für die Auswahl ist die Qualität.
2013 wurde die Matthäus-Passion erarbeitet, die nach der Aufführung in Bensheim auf einer Konzert-Tournee in Südamerika erklingen wird. red
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