BA- Sommerinterview - Christine Lambrecht (SPD) zur Festschreibung des Rentenniveaus, Haushaltsüberschüsse und die bevorstehende Landtagswahl

„Die SPD setzt in Hessen auf Sieg“

Von 
Jörg Keller und Michael Roth
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Bergstraße. Vor genau 20 Jahren zog Christine Lambrecht (53) erstmals als Abgeordnete in den Deutschen Bundestag ein. Aufgewachsen ist die Juristin in Viernheim. Heute pendelt sie zwischen Berlin und dem Kreis Bergstraße. Ihre politische Karriere startete sie in der Viernheimer Stadtverordnetenversammlung, deren Vorsitzende sie von 1997 bis 2001 war.

Als Bundestagsabgeordnete war sie Mitglied im Ältestenrat, stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende und in der vergangenen Legislaturperiode Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion. Seit dem 14. März ist sie Parlamentarische Staatssekretärin im Finanzministerium.

Frau Lambrecht, in der vergangenen Woche ist Finanzminister Olaf Scholz vorgeprescht mit der Ankündigung, eine Sicherung des Rentenniveaus bis 2040 zu garantieren. Jetzt heißt es, dass sich die Große Koalition auf eine Festschreibung bis 2025 geeinigt hat. Ist die SPD mal wieder eingeknickt?

Christine Lambrecht: Nein. Beeindruckend ist, dass jetzt erstmals eine Niveausicherungsklausel beschlossen ist und wir eine doppelte Haltelinie zusagen. Unter 48 Prozent des Durchschnittseinkommens wird die Rente nicht fallen und gleichzeitig werden die Beiträge nicht über 20 Prozent steigen. Es ist einmalig, dass man das so glasklar für einen Zeitraum festlegt.

Aber Herr Scholz hat doch mit dem Datum 2040 Begehrlichkeiten bei den Bürgern geweckt. Außerdem hatte die SPD mal wieder ein soziales Thema besetzt. Haben Sie das nicht leichtfertig hergegeben?

Lambrecht: Wir fordern weiterhin eine Festschreibung bis 2040. Die Union ist jedoch derzeit nicht bereit, eine Zusicherung über den Zeitpunkt 2025 hinaus zu geben. Das heißt aber nicht, dass das Thema vom Tisch ist. Die Forderung wird sicherlich auch Thema in der Rentenkommission sein. Manchmal muss man dicke Bretter bohren. Das geht dann einfach nicht innerhalb von zwei bis drei Wochen.

Das alles erinnert jetzt an die Bürgerversicherung. Das Thema hat die SPD doch auch gleich abgeräumt nach dem Koalitionsbeschluss.

Lambrecht: Abgeräumt haben wir die Bürgerversicherung nicht. Wir haben sie nur bei den Verhandlungen mit dem Koalitionspartner nicht durchsetzen können.

Waren da der SPD die Regierungsbeteiligung und Ministerämter wichtiger?

Lambrecht: Es ging nicht um die Regierungsbeteiligung, sondern um das, was dahinter steht. Um die Forderungen, die wir in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt haben und die jetzt ja zum Teil beschlossen wurden. Beispielsweise deutliche Verbesserungen für Familien, für das Vertrauen junger Menschen in das Rentensystem und für Arbeitslose. Es wurde auch eine klare Ansage für Verbesserungen auf dem Wohnungsmarkt gemacht. Man muss sich eben überlegen, ob man bereit ist, in eine Regierung zu gehen, auch wenn man nicht 100 Prozent des eigenen Wahlprogramms durchsetzen kann.

Was passiert jetzt mit der Bürgerversicherung?

Lambrecht: In dieser Koalition werden wir sie nicht durchsetzen können. Wir haben aber mit der Parität in der Krankenversicherung (Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen ab 2019 wieder Beiträge in gleicher Höhe. Die Red.) zumindest einmal einen kleinen Schritt erreicht. Für die Bürgerversicherung gilt: Steter Tropfen höhlt den Stein. Wenn wir jedes Mal aufgegeben hätten, als der von uns geforderte Mindestlohn nicht gekommen ist, dann hätten wir ihn heute nicht. So haben wir für über drei Millionen Menschen die Lebenssituation verbessert.

Mit Blick auf die letzten Wahlergebnisse und aktuellen Umfragewerte hat das der SPD aber nichts genutzt.

Lambrecht: Ich bin mit 16 Jahren in die SPD eingetreten, um etwas zu verändern, und nicht, um die Umfragewerte der Partei zu steigern. Übrigens finden 80 Prozent der Bevölkerung den Mindestlohn gut. Wenn wir ihn nicht umgesetzt hätten, hätten wir sicherlich auch keine größere Zustimmung in der Bevölkerung bekommen.

Aber es wird Ihnen vom Wähler nicht gedankt. Warum?

Lambrecht: Was ist Dank in der Politik? Was Menschen dazu bringt, bestimmte Wahlentscheidungen zu treffen, ist sehr vielschichtig. Dazu gehört häufig nicht, ob die Parteien einhalten, was sie mal zugesagt haben. Das wird quasi erwartet. Zu Recht. Der Wähler will, dass man darüber hinaus neue Ideen einbringt. Dazu gehören auch Vorschläge, wie der von Olaf Scholz zur Rentensicherung.

Was wäre denn das nächste Thema, mit dem die SPD punkten könnte?

Lambrecht: Das Thema Wohnen ist auf allen Ebenen auf der Agenda. Ich bin auch sehr froh, dass es hier in Hessen von unserem Spitzenkandidaten Thorsten Schäfer-Gümbel in den Mittelpunkt gestellt wird. Am 21. September wird es auf Bundesebene einen Wohnungsgipfel geben, bei dem man sich überlegen wird: Welche Möglichkeiten haben wir, um Einfluss zu nehmen?

Was schwebt Ihnen dabei vor?

Lambrecht: Die Ergebnisse, die jetzt ein Sachverständigenrat des Wirtschaftsministeriums erarbeitet hat, ganz bestimmt nicht. Zusammengefasst soll alles abgeschafft werden, vom Sozialen Wohnungsbau bis zur Mietpreisbremse. Stattdessen wird nur auf Wohngeld gesetzt. Das würde bedeuten: Wer Wohnungen baut, kann nach diesen Vorschlägen so teuer bauen, wie er möchte. Der Steuerzahler soll diese hohen Mieten dann über das Wohngeld finanzieren. Das ist nicht meine Vorstellung von einer gerechten Wohnungsbaupolitik.

Wie sieht denn Ihre aus?

Lambrecht: Ganz wichtig ist, dass wir intensiv in den Sozialen Wohnungsbau investieren. Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt. Das Geld ist da. Der Bund wird zwei Milliarden Euro investieren, obwohl wir das prinzipiell gar nicht dürfen, das ist ja eigentlich Ländersache. Auch des Landes Hessen. Daher sind wir gerade daran, das Grundgesetz zu ändern. Außerdem müssen wir aufpassen, dass bei Weitervermietungen von bestehendem Wohnraum keine Exzesse entstehen. Deshalb brauchen wir die schärfere Mietpreisbremse. Und auch vor Ort kann etwas getan werden. Beispielsweise kann man in Viernheim und Bensheim Wohnraum an die Stadt vermieten, den die Kommune an Wohnungssuchende weitervermittelt. Die Kreiskoalition hat sich darauf verständigt, das kreisweit umzusetzen.

Ist Thorsten Schäfer-Gümbel der richtige SPD-Spitzenkandidat in Hessen, nachdem es bei den letzten beiden Landtagswahlen nicht geklappt hat?

Lambrecht: Thorsten Schäfer-Gümbel ist absolut der Richtige. Er ist unglaublich engagiert und hoch erfahren. Außerdem kann er Leute mit unterschiedlichen Positionen zusammenbringen. Das hat er gezeigt, als er die hessische SPD in einer schwierigen Phase übernommen hat. Genauso wird er das als Ministerpräsident mit Hessen machen.

In welcher Konstellation ist es denn vorstellbar, dass Thorsten Schäfer-Gümbel bei der Landtagswahl am 28. Oktober Ministerpräsident wird?

Lambrecht: Indem wir die Wahl gewinnen. Es ist das klare Ziel der SPD, auf Sieg zu setzen. Wir haben die richtigen Themen: Bildung, Wohnen und Mobilität im ländlichen Raum. Das ist das, was den Menschen auf den Nägeln brennt.

Derzeit ist aber zu erwarten, dass es für die SPD nicht ganz für die absolute Mehrheit reichen wird…

Lambrecht: (lacht) Jetzt sind Sie aber pessimistisch.

Welche Koalitionskonstellationen sind denn vorstellbar?

Lambrecht: Dass es mit der AfD keine Zusammenarbeit geben kann, ist für die SPD selbstverständlich. Ansonsten werden wir mit allen demokratischen Parteien sprechen. Für mich gehört da auch Die Linke dazu. Wir haben in vielen Bundesländern solche Konstellationen, warum soll ich es denn dann ausschließen. Von der Ausschließeritis haben wir gerade in Hessen genug. Wir haben gelernt, dass das nicht der richtige Weg ist. Man muss am Ende nicht nur danach schauen, mit wem eine Koalition rechnerisch möglich ist, sondern mit wem es auch inhaltlich geht. Die Schnittmenge muss groß genug sein.

Kürzlich wurde bekannt, dass Bund, Länder und Kommunen in den ersten sechs Monaten einen Überschuss von 48 Milliarden Euro erwirtschaftet haben. Wie erklären Sie einem Lindenfelser, dass seit Jahren kein Geld zur Sanierung des Schwimmbads da ist?

Lambrecht: Ich kann als Bund nicht sagen: Die Lindenfelser Bürger und ihr Bürgermeister Michael Helbig sind mir so sympathisch, da schicke ich jetzt vom Bundesfinanzministerium mal was hin. Es gibt andere Möglichkeiten. Wir haben die Kommunen schon in der letzten Legislaturperiode gestärkt, indem wir mehr Umsatzsteueranteile abgeben. Wir haben im Zusammenhang mit dem Bundesteilhabegesetz eine Entlastung der Kommunen beschlossen. Die Länder bekommen zusätzlich über neun Milliarden Euro im Finanzausgleich. Im aktuellen Koalitionsvertrag haben wir Investitionen in Wohnungsbau und Bildung vereinbart, was eigentlich Ländersache ist. Wir statten die Länder so gut aus, dass sie in der Lage sein müssten, das Geld an die Kommunen weiterzugeben.

Und woher kommt jetzt das Geld für das Lindenfelser Schwimmbad?

Lambrecht: Das ist Aufgabe einer hessischen Landesregierung. Bei einem Überschuss von 48 Milliarden Euro – auch bei Land und Kommunen – müsste sich der hessische Finanzminister überlegen, warum im ländlichen Raum die Lebenssituation vielleicht nicht ganz so attraktiv ist, wie man es sich wünschen würde. Wenn den hessischen Kommunen durch den kommunalen Finanzausgleich ordentlich in die Tasche gegriffen wurde, dann sind das die Konsequenzen. Ein SPD-Finanzminister wird sich auf jeden Fall kommunalfreundlicher verhalten.

Bei der Wahl von Andrea Nahles als Parteivorsitzende zeigten Sie sich optimistisch, dass es der SPD gelingen wird, die Partei trotz Regierungsbeteiligung programmatisch und organisatorisch zu erneuern. Wie weit sind Sie denn?

Lambrecht: Uns war klar, dass das nicht innerhalb von vier Wochen geht. Klar hätte ich mir gewünscht, wir stünden heute in den Umfragewerten schon besser da. Aber richtig erwartbar war das nicht. Wir sind in der Partei in einem internen Dialogprozess, der neben der Regierungsarbeit stattfindet. Dabei wird an der Frage gearbeitet: Was sind denn die Positionen der SPD für die Zukunft? Da gibt es die unterschiedlichsten Formate und Themen. Wir wollen die Zeit bis zum Parteitag im kommenden Jahr nutzen.

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