Lorsch. Solche Männer braucht das Land. Zornige Intellektuelle, die das Volk aus seiner Lethargie peitschen. Die moralisch sind, ohne zu moralisieren. Unerbittlich in ihrer Analyse, aber immer menschenfreundlich und optimistisch an den geistigen Fortschritt der Artgenossen glaubend. René Sydow ist all das.
2016 hat er den Förderpreis des Deutschen Kleinkunstpreises erhalten. Mit seinem Kabarettprogramm „Die Bürde des weisen Mannes“ gastierte der Mann vom Bodensee im Theater Sapperlot.
Der 38-Jährige ist ein Prediger des Wahren, Guten und Schönen in einer abkratzenden Welt. In einem zweistündigen Monolog (mit kurzer Pause) schneidet er die allgemeine Verantwortung aus den anonymen Institutionen wie Staat, Kirche und Wirtschaft heraus und pflanzt sie dahin zurück, wo sie hingehört: in den Kopf jedes Einzelnen.
Eigene Haltung hinterfragen
Sydow zweifelt zwar nicht an so etwas wie der Schwarmintelligenz, doch eine massenhafte Dummheit sei heutzutage mindestens ebenso präsent. Doch Sydows Blick auf Social Media, You Tube und Unterschichtsfernsehen besitzt bei aller Wut auch eine therapeutische, pädagogische Komponente: Denn er glaubt, dass ein Entkommen aus dem dunklen Tal der momentanen Zivilisation nicht nur sinnvoll und erstrebenswert, sondern auch möglich ist.
Der politische Kabarettist, Schauspieler und Schriftsteller mit Slam-Poetry-Erfahrung (und das merkt man auch) fordert sein Publikum. Und er fordert es auf, tief in sich hinein zu schauen, eigene Haltungen und Handlungen permanent zu hinterfragen und die flache Wirklichkeit an ihrem hohen Anspruch zu messen. „Sechs Milliarden Menschen auf diesem Planeten haben Zugang zu einem internetfähigen Handy, nur 4,5 Milliarden zu einer Toilette. Man muss sich halt auf Prioritäten setzen.“
Abgase der übelsten Natur
World Wide Web, TV und live streamende Privatkanalmillionäre seien nicht grundlegend schlecht. Es gebe da glänzenden Journalismus, höchste Kreativität und kluge Absonderungen – aber eben auch hohle Abgase der übelsten Natur. Einzelne populäre Exemplare seien nur die Symptome einer Entwicklung. Er ist nicht enttäuscht von der Technisierung und Digitalisierung der Welt, aber davon, was der Mensch daraus macht.
„Wir reden von Leistung, aber wir loben nur den Erfolg.“ René Sydow predigt einen moralisch gefärbten Bildungsbegriff à la Wilhelm von Humboldt, der die Entwicklung des Menschen zu einer selbst bestimmten Persönlichkeit meint. Doch an deutschen Schulen werde das leider mit schnödem Wissen verwechselt. Dass sich Letzteres heute rasant vermehrt steht im krassen Gegensatz zum Vorkommen von Bildung, die in einer Gesellschaft aus Konsumenten und Usern immer mehr verkomme.
Sydow mahnt und appelliert. Der ehemalige Lehrer und Dozent geht voll in seinem Anspruch auf. „Die Zukunft besteht nur noch aus Einsen und Nullen. Und wir dürfen uns dann entscheiden, was wir sein wollen: eine Eins oder eine Null.“ Kunst und Kultur, sagt er, bringen uns immer dann weiter, wenn sie uns zunächst überfordern. Sie regten unser Denken an. Irren, Zögern und Infragestellen seien wichtig, um auf das Leben vorbereitet zu werden. Das Streben nach oben und nach vorn sei der Treibstoff einer jeden Existenz. Wer die Menschen „dort abholen will, wo sie stehen“, der renne in die falsche Richtung – nämlich an die Grenze zu Analphabetismus und Oberflächlichkeit.
„Ein Kind ist heute ein Projekt“
Diese denkfaule Konsumhaltung spiegele sich auch in der Haltung vieler Eltern wider: „Während sie ihr Kind nach einer Fünf in Mathe früher fragten, was es falsch gemacht habe, laufen sie heute zum Lehrer und fragen diesen, was er falsch gemacht habe.“ Ein Kind sei heute keine Lebensaufgabe mehr, sondern ein Projekt, das von Beginn an effizient funktionieren müsse. In theatralischen Szenen unterhält sich der Kabarettist mit dem Teufel, der daran erinnert, dass die meisten Kriege nicht seinetwegen, sondern im Namen seines Gegenspielers geführt wurden und werden. Dann schlüpft Sydow in die Rolle seines durchoptimierten Nachbarn, der sich mittels Fitness-Tracker überwachen und von Algorithmen sein Leben bestimmen lässt.
Sydows Programm ist ein Anstacheln zur Auflehnung, ein Tritt ins Hinterteil der Bequemen, Arrangierten und Saturierten. „Wir fotografieren die Welt, aber wir begreifen sie nicht.“ Man solle nicht tumb staunen, sondern vital hinterfragen. Flott und assoziativ mäandert er von einem Thema zum nächsten. Rhetorisch brillant und sachlich beinhart decodiert Sydow die Selbsttäuschung der modernen Gesellschaft, in der Kriege als Friedenseinsätze getarnt werden, wo Imperialismus Welthandel heißt und noch immer Religionen als massentaugliche Vertröstungsmaschinen einen hohen Freizeitwert besitzen. „Die Wirtschaft schätzt Kranke, Schwache und Ungebildete schon immer.“
Falsch liegt, wer das Ende des politischen Kabaretts eingeläutet hat. Richtig derjenige, der René Sydow als Hoffnung der Szene preist.
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