Kabarett - Star-Choleriker Matthias Egersdörfer perfektioniert im Lorscher Theater Sapperlot die reinigende Wirkung des Humors

Ein Franke kotzt sich im Sapperlot aus

Von 
Thomas Tritsch
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Legt den Finger in viele Wunden: Matthias Egersdörfer zieht im Lorscher Theater Sapperlot vom Leder.

© Lotz

Lorsch. Was für ein leiser, feingeistiger Mensch, der einem das frisch erstandene Büchlein mit einem skizzierten erigierten Penis signiert, wie man ihn von Schulklotüren kennt. Mit dem Edding mitten auf den Umschlag. Im gestreiften Bademantel sitzt Matthias Egersdörfer etwas erschöpft am Flügel, nachdem er zweieinhalb Stunden lang die Drecksau hat raushängen lassen. Eine Rolle, sicher. Aber niemand sonst schafft es so virtuos und verstörend, mit den Gefühlen und Erwartungen des Publikums zu spielen.

Mit dem Sapperlot hat sich der fränkische Kabarettist ein für seine Verhältnisse eher kleines Haus in den Tourplan gerammt. Umso schöner für das Publikum, das den Star-Choleriker aus allernächster Nähe erleben durfte. Die Vorstellung war natürlich ausverkauft. Das Programm "Vom Dinger her" läuft im zweiten Jahr und wird inhaltlich regelmäßig saniert und ausgebessert, wie der 45-Jährige nach der Vorstellung bemerkte.

Viel Gegenwind in der Heimat

Egersdörfers Tiraden gegen alles und jeden sind keineswegs billige verbale Kotzbrocken, die einer vordergründigen Lust am Vulgären entspringen. Erst im Finale seiner Ausführungen spürt man plötzlich, welch feingliedriges Mosaik an Themen und Assoziationen da entworfen und für alle Zeit in die Köpfe der Zuschauer eingemeißelt wurde. Denn löschen kann man diese plastischen Bilder auf keinen Fall mehr: Da vermischen sich Erinnerungen mit Alpträumen, Realität und Fantasie zu einer verstörend-schönen Melange, die bleibt. Nach eigenen Angaben sind seine Vorbilder Thomas Bernhard und Karlsson vom Dach. Doch eine Spur Kafka schwingt da ganz oft mit.

In seiner Heimat wurde er schon als "Schande für Franken" tituliert. In Mainz hat er 2010 den Deutschen Kleinkunstförderpreis entgegengenommen. In Lorsch hat er das Publikum fertiggemacht - und das in jeder Hinsicht. Egersdörfer teilt aus, droht den "Vollidioten" in der ersten Reihe und der vorlauten "blöden Sau" auf dem Balkon mit der Faust und einem beängstigend bösen Blick. Er hat eine Figur erschaffen und mit ihr eine Dramaturgie, die mit etablierten Kabarettgewohnheiten bricht und dafür wiederholt Unverständnis und Gegenwind erntet.

Geniale Kollisionen

Der Bayrische Rundfunk ("Diese Arschlöcher") hat ihm schon mal ein derbes Wörtchen herausgeschnitten. Dabei tut Matthias Egersdörfer - offenbar erfolgreich - doch nichts anderes, als die Scheinheiligkeiten, den Hass und die Falschheit seiner Artgenossen demonstrativ vorzuführen. Nach der Vorstellung hat der Zuschauer eine Katharsis erlebt, fühlt sich im Innern gereinigt - wenn auch mit Salzsäure auf angespitzter Drahtbürste.

Egersdörfers famos getaktete Rahmenhandlung beginnt mit der kollegial geäußerten Feststellung, dass er morgens unbedingt einen Kaffee braucht. Ein Schuss verdorbene Milch setzt einen Gedankenstrom in Gang, der das Publikum durch psychedelische Sequenzen reißt und dabei immer wieder genial mit der Realität kollidiert. Der Protagonist findet sich in seiner Kindheit wieder, erlebt sich in Strumpfhosen auf dem Spieleteppich wieder, in seiner arbeitslosen Kinderdetektei und auf dem Kleiderschrank, auf den ihn seine chronisch plärrende Familie immer bösartigerweise hinaufgesetzt hat.

"Was soll aus einem werden, der in einem Umfeld aufwächst, wo sie immer herumgeschrien haben?", fragt Egersdörfer selbst. Das "dicke Knödelchen" aus Lauf an der Pegnitz klaut erst Chromdioxid-Kassetten und später meterweise Thomas-Bernhard-Bände aus dem Hugendubel. Jetzt fühlt er sich nicht nur verantwortlich für die wirtschaftlichen Probleme der Buchhandelskette: "Vielleicht hab ich ja den Suhrkamp kaputtgemacht." Witze oder Pointen gibt es nicht.

In seinem Amok-Monolog platzt angehäuftes Leid heraus und bahnen sich kluge Gedanken mit einer blutigen Machete ihren Weg. Egersdörfer will, dass sich der Zuschauer in seiner Figur erkennt, um ihm im gleichen Atemzug die Maske um die Ohren zu hauen. Zwischen Gebrüll und Fieberwahn entstehen Gemälde im Kopf, die er mit seiner präzisen, bildhaften Sprache großartig zu komponieren weiß. Matthias Egersdörfer studierte Germanistik, Theaterwissenschaft und Philosophie, später folgte ein Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg.

Die Stringenz des Vortrags und das Spiel mit der Stimmung im Raum machen diesen Abend zu einem großen Erlebnis. Und immer, wenn er - der Kabarettist mit Kampfhundeblick - auf seine Opfer losgeht und das Publikum sich auf ein Massaker freut, boxt er es mit einer feinen Prise Humanismus mitten ins Gesicht. Das Lachen überlässt er dem Publikum. Für seine unvergleichliche Bühnenkunst hat er sich auch den Deutschen Kleinkunstpreis 2015 gesichert. Diesmal den richtigen.

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