Geschichtsbilder sind mächtig. Dafür liefert ausgerechnet die Revolution von 1918/19 ein eindrucksvolles historisches Beispiel. Schon zu Beginn der Zwanziger Jahre ist es nationalen und nationalistischen Kreisen gelungen, die These vom "Dolchstoß" in die Welt zu setzen. Die Novemberrevolution, hieß es, trage die Schuld an der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg (1914-18). Wir wissen heute, dass es sich um eine Lüge handelt, seinerzeit aber wurde die Legende geglaubt, weil man der bitteren Realität der militärischen Niederlage nicht ins Auge sehen wollte. Die "Dolchstoßlegende" hat sehr dazu beigetragen, das politische Klima in der Weimarer Republik zu vergiften und den Boden für Revanche-Gelüste bereitet.
Inzwischen ist die "Dolchstoßlegende" längst erledigt, aber leider auch die Revolution von 1918/19 fast völlig vergessen. "Doppeltes Gedenken im ganzen Land" vermeldete die Deutsche Presseagentur auch in diesem Jahr zum 9. November. Es gab zahlreiche Veranstaltungen zur Pogromnacht im Jahr 1938, als Synagogen in Brand gesteckt und jüdische Mitbürger vom Nazi-Mob umgebracht wurden. Zugleich wurde an vielen Orten an den Fall der Mauer am 9. November 1989 erinnert. Keine Rede war auch in diesem Jahr von der Revolution, die am 9. November 1918 den Kaiser stürzte und uns die erste deutsche Republik gebracht hat. Dabei gäbe es gerade in diesen Zeiten viel Anlass, an den revolutionären Beginn unserer Demokratie zu erinnern.
Liberale und soziale Demokratie gefährdet
Was wir dieser Revolution verdanken, wird heute in Frage gestellt. Die liberale und soziale Demokratie ist gefährdet - auch in Europa. In Ungarn und Polen haben national-konservative Parteien die Macht übernommen. Unabhängigkeit der Justiz und Pressefreiheit sind keine unverrückbaren Werte mehr. Auch in anderen Staaten der Europäischen Union haben sogenannte Populisten Hochkonjunktur. Die AfD hat bei der Bundestagswahl im September 12,6 Prozent der abgegebenen Stimmen bekommen.
Es ist an der Zeit, sich zu rüsten gegen Angriffe auf unsere Demokratie. Sie ist die großartigste politische Errungenschaft unserer Geschichte. Wir verdanken sie den Männer und Frauen, die in den Revolutionsmonaten 1918/19 bereit waren, notfalls ihr Leben einzusetzen. Sie ist nicht etwa ein Geschenk, das Amerikaner, Briten und Franzosen mitgebracht haben, als sie Hitler-Deutschland niedergerungen hatten.
Demokratie-Gründungen durch Siegermächte gehen regelmäßig schief. Den USA ist es weder im Irak noch in Afghanistan gelungen, demokratische Verhältnisse zu schaffen. In Westdeutschland waren die Sieger erfolgreich, weil es längst demokratische Traditionen gab.
Sie reichen zurück in die Revolutionszeit von 1848/49, in der Bürger und Handwerker für politische Rechte kämpfen und ein gesamtdeutsches Parlament wählen - leider ohne nachhaltigen Erfolg. Im Kaiserreich bleibt das Ziel einer demokratischen Republik vor allem in der Sozialdemokratie lebendig. Die SPD steht für Demokratie und Sozialismus und wird immer stärker. Bei den Reichstagswahlen von 1912 machen 34,8 Prozent der abstimmenden Männer ihr Kreuz bei der SPD. Der Weltkrieg ändert nichts am großen Ziel einer sozialen und demokratischen Gesellschaft.
Oberste Heeresleitung fordert Demokratie
Am Ende des verlorenen Krieges ist es dann ausgerechnet die Oberste Heeresleitung, die eine demokratische Umbildung der Regierung fordert - oder besser gesagt "anordnet." Aber die im Eiltempo beschlossenen Reformen sind nichts als ein Betrugsmanöver. Man will die Verantwortung für die Niederlage auf die demokratischen Parteien abwälzen und hofft zugleich, bessere Waffenstillstandsbedingungen zu erreichen.
Als sich zeigt, dass die Kriegsgegner auf den Bluff nicht hereinfallen, folgt eine radikale Kehrtwende. Ohne die angeblich politisch Verantwortlichen auch nur zu informieren, will die Seekriegsleitung Ende Oktober die Hochseeflotte in eine große Schlacht gegen die englische Grand Fleet schicken. Das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Matrosen verweigern den Befehl. Die Meuterei wird zum Aufstand, dem sich schnell auch die Arbeiter an der Küste anschließen. In wenigen Tagen wird der Aufstand zur Revolution und erfasst am 9. November auch Berlin. Hunderttausende von Arbeitern marschieren am 9. November in gewaltigen Demonstrationszügen in die Innenstadt. Keiner der vielen Truppenverbände, die das alte Regime in Berlin zusammengezogen hat, kämpft für Kaiser und Monarchie. All die Maschinengewehre, die Geschütze, die Flugzeuge mit Bomben sind nutzlos, weil die Soldaten sich weigern zu schießen.
Die SPD hat die Revolution nicht gewollt, aber jetzt, wo sie da ist, wird sie angenommen. Um die Mittagszeit gibt der Reichskanzler die Abdankung des Kaisers bekannt, am Nachmittag wird die Republik ausgerufen. Erscheint morgens das kaiserliche Regime noch als unüberwindbares Bollwerk, liegt es am Abend zertrümmert am Boden. Der Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, schreibt von der "größten aller Revolutionen". Diese Revolution verläuft fast unblutig, und doch sterben am 9. November allein in der Hauptstadt 15 Menschen für die Demokratie.
"Rat der Volksbeauftragten"
Als Repräsentanten der Revolutionsbewegung werden am 10. November in ganz Berlin Arbeiter- und Soldatenräte gewählt, und sie bestimmen noch am Nachmittag eine neue Regierung, deren politische Leitung nur aus Sozialdemokraten besteht. Je drei Männer der SPD und der USPD, der Partei der Kriegsgegner, die sich im Jahr zuvor von der SPD abgespalten hat, bilden den "Rat der Volksbeauftragten".
Schon zwei Tage später beschließt diese Revolutionsregierung mit Gesetzeskraft, dass in Zukunft für alle Wahlen auf deutschem Boden das allgemeine freie, gleiche und geheime Wahlrecht gilt. Frauen erhalten das Wahlrecht. Der Achtstündige Arbeitstag wird angekündigt. Freiheitsrechte werden garantiert, soziale Recht in Aussicht gestellt. Baldmöglichst soll eine Verfassunggebende Nationalversammlung gewählt werden.
Am 19. Januar 1919 finden diese Wahlen statt, im Februar tritt die Nationalversammlung erstmals in Weimar zusammen. Friedrich Ebert wird zum Präsidenten gewählt, Sozialdemokraten und bürgerliche Demokraten bilden die erste Koalitionsregierung der Weimarer Republik. Ende Juli beschließt die Nationalversammlung die Verfassung der neuen Republik.
Die erste deutsche Republik war weder das Geschenk eines Kaisers noch einer Obersten Heeresleitung. Wir verdanken sie den revolutionären Arbeitern und Soldaten des November 1918, und wir haben allen Grund uns mit Dankbarkeit und Hochachtung an sie zu erinnern. Ein Blick nach Frankreich oder in die USA zeigt, dass andere Nationen ihre Revolutionen mit Stolz feiern und damit ihre Selbstbewusstsein als demokratische Gesellschaften stärken.
Wir haben in der alten Bundesrepublik lange gebraucht, bis wir den aufständischen Bauern und den Revolutionären von 1848/49 einen angemessenen Platz in unserer Geschichtskultur gegeben haben. Bis heute aber fehlt darin die größte Massenbewegung der deutschen Geschichte, die Revolution von 1918/19.
Für unterschiedlichste politische Zwecke missbraucht
Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Erinnerung an sie ist jahrzehntelang ins Räderwerk der politischen Auseinandersetzungen geraten. Auch noch im Kalten Krieg wurde sie in beiden Teilen Deutschlands für unterschiedlichste politische Zwecke missbraucht, bevor die Novemberrevolution dann in den 1980er Jahren weitgehend in Vergessenheit geraten ist.
Zum runden Jubiläum im kommenden Jahr sollten wir den Revolutionären von 1918/19 einen festen Platz in unserer Geschichtskultur geben und uns daran erinnern, das für die Demokratie gestritten werden muss. Man bekommt sie nicht geschenkt - und man kann sie durchaus auch wieder verlieren. Die Weimarer Republik war keineswegs eine Fehlgeburt und hatte gute Jahre. Mitte 1929 hätte kein Mensch sich träumen lassen, dass vier Jahre später Adolf Hitler an der Macht sein könnte. Die NSDAP kam bei den Reichstagswahlen 1928 auf ganze 2,6 Prozent der Stimmen.
Natürlich unterscheiden sich die Verhältnisse in unserer heutigen Bundesrepublik ganz erheblich von denen in der Endphase der Weimarer Republik, aber auch für uns es gibt keine Garantie auf Demokratie. Die Revolution von 1918/19 kann uns lehren, dass man für sie kämpfen kann - und muss.
Für Hitler, übrigens, war diese Revolution der reine Albtraum. Sein großes Ziel war es, mit den "Novemberverbrechern" abzurechnen und dafür zu sorgen, dass sich Derartiges niemals wiederholt. Sollte nicht auch dies Anlass sein, sich an die Revolutionäre von 1918/19 mit Stolz zu erinnern? Es wäre ein später Sieg Hitlers, wenn es ihm gelänge, uns diese Revolution dauerhaft zu nehmen! (Wolfgang Niess)
Wolfgang Niess
- Dr. Wolfgang Niess, geboren 1952, ist Leitender Redakteur beim SWR Fernsehen. In Stuttgart und Tübingen hat er Geschichte, Politikwissenschaft, Mathematik und Kommunikationswissenschaften studiert.
- Er ist Autor zahlreicher Sendungen, Aufsätzen und Buchpublikationen zu Aspekten der Zeitgeschichte. Mit der Revolution von 1918/19 beschäftigt er sich seit den späten 1970er Jahren. Über ihre Darstellung in Schulbüchern hat er seine Magisterarbeit geschrieben, "Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung" war 2011 Thema seiner Dissertation.
- In diesem Herbst ist im Europa-Verlag sein Buch "Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie" erschienen.
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