Der jüngst von der UN veröffentlichte World Happiness Report bestätigt es wieder: Die Voraussetzungen, um ein glückliches Leben zu führen, sind nirgendwo besser als in den westlichen Demokratien. Gleichwohl gibt es in diesen Gesellschaften mit einem seit 2001 anwachsenden Krisenbewusstsein zugleich das Gefühl sich verstetigenden Unglücks. Zur Bedrohung durch die industrielle Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen gesellen sich seit der Jahrtausendwende die Bedrohungen durch einen global agierenden Terrorismus, ein dereguliertes Finanzsystem, weltweit anwachsende soziale Ungleichheit und daraus resultierende Migrationsbewegungen.
Während deshalb die westlichen Wohlfahrtsstaaten erhebliche und, historisch betrachtet, einmalige Voraussetzungen zur Erreichung individuellen Lebensglücks geschaffen haben, ist es eine notorische Angst, die sie umtreibt. Diese Angst versagt ihnen zugleich das Glück, dessen Voraussetzungen zu schaffen doch das erklärte Ziel dieser Gesellschaften ist.
Doch genau genommen haben sie es dabei gar nicht mit einer Angst, sondern mit einer ganzen Reihe von Ängsten zu tun. Diese Ängste lassen sich auf vier Grundformen zurückführen, nämlich: auf die depressive Angst verlassen zu werden, die hysterische Angst vor Festlegung und Freiheitsverlust, die narzisstische Angst vor Abwertung sowie schließlich die zwanghafte Angst vor Chaos, Kontrollverlust und Tod.
Doch der Reihe nach: Die Allgegenwart der depressiven Angst vor Bindungsverlust wird augenfällig an der Wahrscheinlichkeit, in diesen Wohlstandsgesellschaften im Laufe des Lebens an einer Depression zu erkranken. Denn die liegt bei nicht weniger als 20 Prozent. Und das hat eben keineswegs nur innerpsychische Gründe.
Denn in durchökonomisierten Gesellschaften geraten Familien-, Paar- und Freundschaftsbeziehungen immer mehr zu Beziehungen auf Widerruf, werden also immer mehr nach dem Muster kosten-nutzenorientierter Geschäftsbeziehungen geführt. Das schürt, wie sollte es anders sein, die Angst vor dem Verlassenwerden. Vereinsamung oder die Angst davor ist der Preis, den die Freiheitsgewinne der Moderne einfordern.
Hinzu kommt eine andere Art des Bindungsverlusts. Denn nicht nur die Bindungen an andere Menschen, auch Bindungen an Glaubens- und Überzeugungssysteme - also an die großen, sinnstiftenden Erzählungen - sind den Menschen der Moderne nur noch auf Widerruf möglich, was freilich heißt: Sie sind ihnen nicht mehr wirklich möglich.
An die Stelle des Fortschritts- ist deshalb ein Endzeitglaube, an die Stelle der großen Utopien sind Dystopien, das heißt Untergangszenarien getreten, Visionen vom Ende der Geschichte, der Kunst, der Natur oder neuerdings des demokratischen Kapitalismus.
Diese Endzeitszenarien verstellen nicht nur die Aussicht auf eine lebenswertere Zukunft, sie machen auch zukunfts-, hoffnungs- und antriebslos. Mit einem Wort, sie machen depressiv. Doch dabei bleibt es nicht.
An die Seite der depressiven Angst vor Bindungsverlust gesellt sich im kollektiven Erleben eine labile, durch notorische Überreizung gekennzeichnete, hoch nervöse, eben: hysterische Affektlage. Sie ist das vielleicht auffälligste Symptom der kollektiv neurotischen Verfassung unserer Tage.
Massenhysterien wie sie Waldsterben und Volkszählung in der ehemaligen Bundesrepublik ausgelöst haben, haben im Zeitalter von Weltwirtschaftskrise, Terrorismus und Erderwärmung längst eine globale, um nicht zu sagen planetarische Dimension angenommen. Was dabei immer wieder außer Rand und Band gerät, ist aber nicht allein das Gefühl, es ist ebenso sehr die Urteilskraft.
Reale Gefährdungslagen werden so lange übertrieben, bis niemand mehr weiß, was Sache ist, die Sachverständigen schon gar nicht. Die typisch hysterische Angst, sich festzulegen, findet so ihren Ausdruck in der Angst vor der Festlegung des eigenen Urteils, vor jeder Beschränkung der Freiheit des Fühlens und Denkens. Fake-News, die Erfindung und damit Entwertung des Wahrheitsbegriffs, die Tatsache, dass im öffentlichen Raum unverhohlen gelogen und diffamiert wird, ist nur eine besonders sichtbare Konsequenz dieser hysterischen Stimmungslage.
Der Entwertung der Wahrheit entspricht in hochkapitalistischen Gesellschaften die Angst vor individueller Entwertung. Das Individuum, das dem Westen das Höchste und Heiligste zu sein scheint, setzt er durch die Allgegenwart des Konkurrenzprinzips der Gefahr notorischer Entwertung aus. Die Konkurrenz um knappe Güter, Ressourcen, Lebenschancen belebt nicht nur das Geschäft, sie erzeugt, auch wenn das nach wie vor kollektiv verdrängt wird, eine Klasse von Verlierern.
Zur Abwehr der Angst vor Entwertung und Geringschätzung - als Verlierer - dient ein kollektives Größen-Ich. Es entwertet andere, um sich selbst aufzuwerten. Und, weil das eigene Ich nie größer erscheint als da, wo es wütend wird, ist die wirksamste Enterwertungsstrategie immer noch die, den anderen zum Feind zu erklären. Dass sich (eben nicht nur in den USA) narzisstisch gekränkte Teile der Gesellschaft in einem fort Feindbilder ersinnen, um sich dann Narzissten als Führer im Kampf gegen diese Feinde zu wählen, ist dann mehr als erwartbar.
In den westlichen, so durch narzisstische, hysterische wie depressive Ängste gezeichneten Gesellschaften wird also Angst potenziert. Um dieser beständig wachsenden Ängste Herr zu werden, setzten diese Gesellschaften immer mehr auf Kontrolle und Zwang als Mittel der Gefahrenabwehr und Angstreduktion. In der Vorzeigedemokratie USA sind deshalb mehr Menschen als in irgendeinem anderen Land der Welt inhaftiert (nämlich 2,2 Millionen). Und demokratische Wahlen bringen immer mehr undemokratische, Freiheitsrechte limitierende Autokraten an die Macht.
Die fortschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche tut dann ihr Übriges hinzu: Nie war in demokratischen Gesellschaften das Überwachen und Strafen so leicht wie in unseren Tagen. Aus offenen werden so immer mehr geschlossene Gesellschaften.
Was also tun, angesichts dieser zugleich depressiven, hysterischen, narzisstischen und zwanghaften - mit einem Wort: kollektivneurotischen Verfassung des Westens?
Zunächst scheint ein kräftiges Eingeständnis angebracht zu sein: Der Glaube an den zwanglosen Zwang des besseren Arguments, das westliche Vertrauen in die Aufklärung und damit in Vernunft und Verstand als Garanten sozialen Fortschritts war, gelinde gesagt, übertrieben. Und es sind, denkwürdig genug, in diesen Tagen vor allem Populisten, die vor Augen führen, woran es dem sich aufgeklärt wähnenden, auf Vernunft und Verstand setzenden Politikverständnis mangelt: nämlich an der Berücksichtigung des Gefühls als Motor sozialen Wandels.
Überzeugungen, eben deshalb bleiben die allgegenwärtigen Appelle an die politische Vernunft so häufig ungehört, werden eben selten aus reinen Vernunftschlüssen deduziert, sondern in der Regel aus Erfahrung gewonnen. Erfahrungen aber umfassen mehr als den Bereich reinen Denkens, sie schließen das Gefühl ein, wären nichts ohne das Gefühl.
Was wir daher in der gegenwärtigen Krise erleben, ist, dass der Westen zwar nicht unter seinen technischen, ökonomischen und intellektuellen Möglichkeiten, allem Anschein nach aber sehr wohl unter denen des Gefühls lebt. Mit anderen Worten: den Anteil des Gefühls sowohl an seiner Seelen- als auch an der derzeitigen Weltlage hat er noch gar nicht wirklich erfasst.
Was aber heißt das? Ich denke, vor allem dreierlei: Zunächst, dass wir es uns nicht länger leisten können, den Raum des Politischen Ökonomen, Technokraten oder Juristen zu überlassen und allein auf deren (vorhandene oder nicht vorhandene) emotionale Intelligenz zu vertrauen; wir brauchen, gerade in der Politik, Sachverständige für das Gefühl: Psychotherapeuten.
Zweitens hat die Humanisierung der Verhältnisse Selbsterfahrung zur Voraussetzung. Nur, wer sich selbst kennt, hat die Freiheit, sein Handeln nicht neurotischen Ängsten und Abwehrmechanismen zu unterwerfen.
Deshalb muss Selbsterfahrung, nicht nur in Form von Psychotherapie, zur Regelleistung eines an seiner Gesundung interessierten Sozialsystems werden. Wie kann es sein, dass wir Generationen von Kindern immer nur Welt- und Faktenwissen, aber kein Selbstwissen vermitteln? Gerade Schulen, aber eben nicht nur Schulen würden von Kenntnissen in gewaltfreier Kommunikation, Burn-Out-Prävention und Mediation profitieren.
Drittens führt aber an der Notwendigkeit der Schaffung von Räumen, die nicht nur Einzelnen, sondern auch Gesellschaften emotionales Wachstum ermöglichen, kein Weg vorbei. Die Schaffung der UN war ein erster Schritt in diese Richtung. Die Instaurierung von Wahrheitskommissionen (wie etwa in Südafrika) nach gewalttätigen Konflikten ein anderer. Diesen müssen dringend weitere Schritte folgen. Denn die Alternative, der Status quo, ist keine Alternative!
Christian Kohlross
- PD Dr. Christian Kohlross, 1963 geboren, ist Kulturwissenschaftler an der Universität Mannheim. Er hatte mehrere Gastprofessuren, unter anderem an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er ist als Dozent in der Psychotherapeutenfortbildung sowie psychotherapeutisch in einer eigenen Praxis in Berlin tätig.
- Gerade ist sein neues Buch „kollektiv neurotisch“ beim Verlag J.H.W. Dietz erschienen. (ble)
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