Was ist Frieden? Alle wollen Frieden, doch nicht jeder will denselben. Das lässt sich leicht erklären: Die Vorstellungen, Wünsche oder Hoffnungen sind zu verschieden, als dass von allen, die Frieden wollen, jeder denselben – oder auch nur den gleichen – Frieden meinte.
Auch das lässt sich leicht erklären. Man schaue auf die historische Entstehung und, daraus abgeleitet, den Inhalt des Begriffs in unterschiedlichen Sprachen und bei verschiedenen Völkern und Kulturen. Schnell wird man dabei erkennen, dass die in unserer Gegenwart individuell und kollektiv voneinander abweichenden Friedensvorstellungen entscheidend in der Vergangenheit geprägt wurden und sicher auch noch lange in der Zukunft wirken werden.
Frieden als Weltfrieden, ja, sogar als kosmisch vollendeten Zustand deutet der hebräisch-jüdisch-alttestamentliche, später vom Arabischen übernommenen Begriff „Schalom“ – – beziehungsweise „Salem“ – an. Wörtlich übersetzt heißt das Frieden. Im modernen Hebräisch ist es jedoch ein Allerweltswort statt „Hallo“ oder heute in Israel auch das angelsächsische „Hi“.
Die Wortwurzel und damit der Wortinhalt geht allerdings erheblich tiefer. Er bedeutet „heil“ im Sinne von „ganz“ oder „Ganzheit“, letztlich „Unversehrtheit“ von allen und allem.
Wenn also A zu B „Schalom“ sagt – so der Urgedanke – wünscht man sich nicht nur zwischenmenschlich intakte Kontakte, sondern eigentlich etwas Quasi-Vollendetes, geradezu Kosmisches, beinahe Paradiesisches, auf jeden Fall so etwas wie das Messianische Zeitalter im Hier und Jetzt. Mit diesem „Schalom“-Frieden war demnach weit mehr als nur die Abwesenheit von Gewalt, Mord, Totschlag und Krieg gemeint: Die Welt, der Kosmos, sei in Ordnung oder, noch besser, vollendet, makellos. Meinen die meisten von uns, wenn wir von Frieden sprechen, nicht auch mehr oder weniger diesen „Schalom“-Frieden?
„Eirene“ ist das altgriechische Wort für Frieden und die Friedensgöttin. Viele von uns sind auch von der Friedensvorstellung im Frühen Hellas beeinflusst: Dort verstand man unter Frieden einen Zustand von Stille und Harmonie.
Ebenso wie im biblischen Althebräisch wurde von den alten Griechen dieser Harmonie-Wunsch-und-Ideal-Zustand auf den Bereich zwischen Menschen und Staaten übertragen. In der realen Hellas-Welt galt freilich der Krieg als Normalzustand. Das Ende von Kampfhandlungen zwischen Stadt-„Staaten“ (Polis), also ein realpolitischer Friedensschluss, bedeutete folglich deutlich weniger als jener kosmische und irdische Ideal-Frieden.
Zum realpolitischen Frieden der Alt-Griechen gehörte dreierlei. Erstens die Trankopfer. Man trank (und aß wohl auch) gemeinsam. Der Tenor: Isst man miteinander, schlägt man nicht aufeinander.
Zweitens gehörten hierzu die konkreten Vertragsbedingungen. Entscheidend dabei: Wer unterwirft sich wem und wie? Von Gleichheit also keine Spur, sondern Vorherrschaft. Man schaue zum Beispiel auf den Versailler Frieden und sehe wie „friedlich“ er war. So friedlich wie Friedensverträge der Alten Griechen.
Drittens gehörte zum politischen Frieden der Eid, mit dem sich beide Seiten den Bestimmungen gegenüber verpflichteten – was natürlich dem Unterwerfenden leichter fiel als dem Unterworfenen. Frieden im Sinne von Vollkommenheit? Fehlanzeige.
Noch nüchterner war das Verhältnis und Verständnis der „Alten Römer“ zum Frieden. Illusionslos verzichteten sie auf jegliche Überzuckerung , wenn sie pragmatisch, real ohne Ideal an Frieden und Friedensgöttin, lateinisch „pax“, dachten. Pax kommt von „pacare“ (auf deutsch: unterwerfen, unterjochen, friedlich machen) und „pacisci“ (auf deutsch: einen Vertrag schließen). Pax ist als Diktatfrieden des Siegers über den Besiegten Ziel und Ergebnis einer durch Gewalt herbeigeführten oder herbeizuführenden Handlung. Die „Pax Romana“ galt folgerichtig für den von Rom unterjochten Bereich, also das Römische Imperium, welches Unterjochung brauchte, um „Frieden“ zu sichern. Lichtjahre ist auch die altrömische Vorstellung vom „Schalom“-Frieden entfernt.
Wenig überraschend, dass der „fridu“ der Alten Germanen noch weiter von (unserem heutigen?) „Schalom“-Ideal entfernt ist. Ihr Frieden war rein innenbezogen. Er beinhaltete „die Bindung des einzelnen an seine Sippe und die Verbundenheit der ganzen Sippe mit jedem einzelnen“. Es war eine „Bindung auf Gedeih und Verderb“ (Claus D. Kernig).
Im Innern der Kleingruppe oder Sippe hatte Harmonie zu herrschen. Wer diesen „fridu“ von innen oder vor allem von außen störte, wurde bestraft. Streit, Rache und Fehde waren als Dauerphänomen zwischen und weniger in den germanischen Sippen und erst recht mit Nichtgermanen programmiert. Kriegerisch, tapfer – und wenig friedlich waren die Vorfahren der „Bio-Deutschen“.
Jesus greift das „Schalom“-Ideal der alttestamentlichen Propheten auf und weitet es aus. Die biblischen Propheten gingen vom Nationalen beziehungsweise der jüdischen Herkunftsgruppe aus und erweiterten sie auf die gesamte Menschheit. Jesus’ „Schalom“-Ideal überwindet von Anfang das „Nationale“ beziehungsweise die Herkunftsgruppe. Die Kirche verkürzte es später wieder, indem sie das „Heil“ – wie bei „Schalom“ verstanden als Vollkommenheit – von der Zugehörigkeit zur (oder der Hörigkeit von) der Kirche abhängig machte.
Das sind sozusagen die Urvorstellungen vom Frieden, die unser Kulturkreis kennt und nennt. Vereinfacht ausgedrückt sind die späteren Ideal- oder Realbeschreibungen mehr oder weniger tiefgründige Variationen. Wir haben eine Schneise in den Begriffs-Urwald geschlagen und halten fest: Frieden ist, was das Individuum A, B, C bis Z unter Frieden versteht oder verstehen will. Wenn sich ein Kollektiv oder gar mehrere Kollektive auf einen Friedensbegriff verständigen (was friedlich in der Geschichte selten der Fall war), so handelt es sich um eine Werte-Entscheidung und keine Begriffsbestimmung.
Wie erreicht man Frieden? Die Frage ist falsch gestellt. Wie erreicht man welchen Frieden, und wo ist er derzeit erreichbar? So sei gefragt.
Die meisten von uns dürften heute das altgriechische, -römische und germanische Friedensmuster eher nicht anstreben, da es den Krieg als Konstante beinhaltet. Sowohl das „Schalom“- als auch jesuanische Modell sind Ideal- und leider keine Realvorstellungen, also nicht realisierbar. Bliebe ein pragmatisches Konzept.
Der Grundgedanke: Menschen wollen individuell ebenso wie kollektiv ihren Alltag selbst bestimmen. Daraus folgt: Selbstbestimmung ist eine historische Urkraft. Man kann sie lange unterdrücken, doch nicht dauerhaft. Nur Selbstbestimmung schafft politische Befriedigung, und diese bewirkt Frieden. Frieden und Befriedigung hängen nicht nur sprachlich zusammen. Den deutschen Sprach-Ahnen war dies offenbar bewusst.
Die Gemeinschaft A hat – aus welchen Gründen auch immer – gegenüber der Gemeinschaft B ein stärkeres Wir- und Zusammengehörigkeitsgefühl. A erstrebt einen Alltag nach A- und nicht nach B-Regeln. Gleiches gilt für B gegenüber A.
Das kann nur gewaltfrei gelingen, wenn A und B ihr eigenes Territorium haben, also ihren eigenen Staat. Was aber, wenn A und B (oder auch C, D und noch mehr wodurch auch immer bestimmte Wir-Gemeinschaften) in diesem einen Staat leben? Mord und Totschlag oder zumindest heftige Verwerfungen sind die Folge.
Das sehen wir heute zum Beispiel in Afghanistan, Libyen, Syrien, Afghanistan, Irak, Kurden-Türkei, Krim, Ukraine, Tschetschenien, Moldavien, Transnistrien, Slowenien, Rumänien, Tibet-China, Uiguren-China, Myanmar, Mali, Nigeria, Zentralafrika. Selbst diese Liste und unvollständig. Nicht unerwähnt bleiben sollen Spanien (Katalonien, Baskenland, Galicien), Frankreich (Korsika), das Vereinte Königreich (Schottland, Wales, Nordirland), Nord- und Süd-Italien. Auch die Europa-Liste ließe sich fortsetzen.
Was tun? Wie kann Selbstbestimmung begründet werden? Das Schlüsselwort heißt Föderalismus. Da diese jeweiligen Wir-Gemeinschaften räumlich in je einem Gebiet konzentriert leben, kann man ihnen problemlos innerhalb eines Bundesstaates (Stichwort „Bundesrepublik“) in einer Art Bundesland Selbstbestimmung gewähren, ohne dass der bereits bestehende, friedlose Staat zerfiele. Im Gegenteil, er würde gestärkt.
Die Schweiz ist ein gutes Modell. Letztlich auch die Europäische Union. Sie ist, vereinfacht gesagt, ein Staatenbund. Bundesstaat und Staatenbund sind zwei Seiten derselben friedensstiftenden Medaille. Gäbe es die EU nicht: Man müsste sie erfinden.
Michael Wolffsohn
Professor Dr. Michael Wolffsohn ist Historiker, Publizist und einer der führenden Experten für die Analyse internationaler Politik.
Der 1947 in Tel Aviv geborene Sohn einer 1939 nach Palästina geflüchteten jüdischen Kaufmannsfamilie kam 1954 mit seinen Eltern nach West-Berlin. Nach Wehrdienst in Israel und Studium in Berlin, Tel Aviv und New York lehrte er von 1981 bis 2012 als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.
Der Deutsche Hochschulverband kürte ihn zum Hochschullehrer des Jahres 2017.
Gedanken über den Frieden erörtert Wolffsohn in seinem Buch „Zum Weltfrieden: Ein politischer Entwurf“. Zuletzt erschien von ihm außerdem „Deutschjüdische Glückskinder: Eine Weltgeschichte meiner Familie“ und „Zivilcourage – Wie der Staat seine Bürger im Stich lässt“.
Info: Mehr im Netz unter www.wolffsohn.de
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