Die Entfernung ist riesig: 10 000 Kilometer Luftlinie, fast 15 Flugstunden. Und so wissen wir nicht allzu viel über die Philippinen. Und das Wenige stammt eher aus bunten Blättern. Etwa über Imelda Marcos, deren 3000 Paar Schuhe Symbol sind für die Bereicherung ihres Mannes, des 1986 gestürzten Diktators Ferdinand Marcos. Kaum bewusst ist uns auch, dass das Land inmitten des eher buddhistischen Asiens zu 92 Prozent katholisch ist und Spanisch spricht.
Völlig unbekannt gar, dass der in seiner Heimat als geistiger Vater der staatlichen Unabhängigkeit verehrte Nationalheld sein geistiges Rüstzeug in unserer Region erhält: José Rizal lebt und wirkt in den 1880er Jahren in Heidelberg und dem Odenwald-Dorf Wilhelmsfeld.
Um die historische Bedeutung dieses berühmten ehemaligen Bewohners der Region zu ermessen, müssen wir einen kurzen Ausflug in die Geschichte der Philippinen unternehmen. 1521 wird das aus 7000 Inseln bestehende Archipel vom legendären Weltumsegler Magelan entdeckt. 1565 nehmen es die Spanier in Besitz und benennen es nach ihrem König Philipp II.: Philippinen. Den Conquistadoren folgen katholische Priester mit ihrer religiösen Mission, die zu erdrückender kultureller Dominanz mutiert.
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Ein neuer Name
In diese Situation hineingeboren wird 1861 José Mercado als siebtes von elf Kindern eines chinesisch-stämmigen Kaufmanns. Der Oberschicht angehörend, ist die Familie Teil der Opposition. Joses Bruder Paciano ist in der Unabhängigkeitsbewegung aktiv; als die Besatzer ihm nicht habhaft werden, verhaften sie die Mutter und kerkern sie unter einem Vorwand zweieinhalb Jahre ein. Zu seinem Schutz nimmt Jose den Namen „Rizal“ an – „Reisfeld“.
In Manila studiert er an der angesehensten Universität Philosophie und Literatur, ist regelmäßig Jahrgangsbester. Als seine Mutter erblindet, beschließt er, Arzt zu werden, geht zum Studium der Medizin nach Madrid. In Paris ist er in einer Augenklinik in der Augenheilkunde tätig.
Um sich bei einer Koryphäe dieser Disziplin, Otto Becker, weiterzubilden, kommt er am 3. Februar 1886 an dessen führende Augenklinik nach Heidelberg in der Bergheimer Straße 20. Seine Unterkunft nimmt er am Ludwigsplatz (heute Grabengasse) 12, seine Freizeit verbringt er in der blühenden Landschaft der Badischen Bergstraße. Hier entsteht am 22. April 1886 sein Gedicht „A las flores de Heidelberg“.
Freundschaft mit Pfarrer
Auf einer seiner Wanderungen auf dem Philosophenweg trifft er den evangelischen Pfarrer von Wilhelmsfeld, Karl Ullmer. Beide kommen ins Gespräch, reden über Gott und die Welt und die Badische Revolution von 1848, in der Ullmer aktiv war. Sie werden Freunde.
Im April 1886 zieht Rizal in das evangelische Pfarrhaus von Wilhelmsfeld. Auf bis zu 500 Metern Höhe im Odenwald gelegen, zählt das Dorf damals 800 Einwohner (heute 3200) und ist erst knapp 175 Jahre alt, entstanden Anfang des 18. Jahrhunderts in der Zeit von Kurfürst Johann Wilhelm, nach dem es auch benannt ist.
Rizal entdecken
- Wilhelmsfeld: Der frühere Wohnort José Rizals liegt im Odenwald und ist von Mannheim etwa 30 Kilometer entfernt. Die Fahrt mit dem Auto (über Schriesheim) dauert etwa 40 Minuten.
- Gedenkstätte: Zentraler Ort der Erinnerung an José Rizal in Wilhelmsfeld ist der nach ihm be-nannte Park oberhalb des Ortes neben Schule und Veranstaltungshalle. In diesem Ehrenhain stehen ein Denkmal, Bronzebüsten der vier Gelehrten, die ihn während seines Aufenthalts in Deutschland geprägt hatten, sowie eine ausführliche Info-Tafel.
- Pfarrhaus: Neben der evangelischen Kirche des Ortes steht das (nach wie vor so genutzte) Pfarrhaus, in dem Rizal einst gewohnt hat; eine Gedenktafel erinnert daran. Die davor verlaufende Straße ist nach Rizal benannt.
- „Schriesheimer Hof“: Das Gasthaus, in dem Rizal zuweilen eingekehrt war, besteht noch immer. Adresse: Schriesheimer Straße 2, Tel. 06220/3279756, landgasthof @schriesheimerhof.de.
- Heidelberg: In der Grabengasse 12, wo Rizal vor seinem Aufenthalt in Wilhelmsfeld wohnte, wurde eine Gedenktafel angebracht.
- Verein: In unserer Region besteht eine Untergliederung jenes weltweit tätigen, 1911 gegründeten Ordens „Knights of Rizal“ (Ritter von Rizal), der sich der Pflege des Andenkens dieses Freiheitskämpfers verschrieben hat: die „Wilhelmsfeld-Heidelberg Knights of Rizal“, im Web: http://ufreytag. michel-media.de/page5.html.
- Literatur: „Wilhelmsfeld. Die Ge-schichte der Gemeinde“, Ortschronik verfasst von Harald Gomille, Verlag Regionalkultur, 2004, 465 Seiten, mehrere davon über den Aufenthalt Rizals in Wilhelmsfeld.
- Rizals Werke: Sein zweites, für ihn schicksalhaftes Buch „El Filibusterismo“ von 1891 wurde 2016 vom Darmstädter Verlag Transwing neu aufgelegt.
Den täglichen Fußweg von zwei Stunden nach Heidelberg nimmt Rizal in Kauf, denn in Wilhelmsfeld fühlt er sich wohl. Mit den Kindern des Pfarrers, Etta und Fritz, sammelt er Pilze und Beeren, speist im „Schriesheimer Hof“, genießt im Nachbarort Schriesheim im Gasthof „Zur Pfalz“ einen Wein, von dessen Qualität er später noch schwärmt. Er verfeinert sein Deutsch, übersetzt die Dramen „Wilhelm Tell“ und „Die Räuber“ in seine Muttersprache Tagalog; insgesamt soll er 22 Sprachen beherrscht haben.
Obwohl sein Aufenthalt hier nicht einmal ein Jahr währt, wird er doch zum zentralen Ereignis seines Lebens. Denn bis in die Nacht hinein, vor einer großen Landkarte der Philippinen an der Wand, vollendet er hier sein berühmtes Werk „Noli me tangere“ (Berühre mich nicht).
Buch mit Sprengkraft
Darin übt er heftige Kritik an der Bevormundung seines Volkes durch die Spanier, vor allem an der Dominanz der römisch-katholischen Kirche; schon damals bildet übrigens sexueller Missbrauch durch die Mönche einen zentralen Kritikpunkt. Als er 1887 in Berlin ist, um sich beim berühmten Pathologen Rudolf Virchow weiterzubilden, veröffentlicht er das Werk, das in seiner Heimat politische Sprengkraft entwickelt; der Erzbischof von Manila verlangt seine Exkommunizierung.
Dabei sind Rizals politische Forderungen moderat: Nicht die Unabhängigkeit seines Landes verlangt er, sondern Autonomie. Die Philippinen sollen nicht länger Kolonie, sondern wie andere Teile Spaniens offiziell Provinz werden, seine Vertreter im Madrider Parlament, der Cortes, Sitz und Stimme erhalten, die spanischen Mönche durch einheimische Priester ersetzt werden. Doch Spanien hat keine Tradition in Sachen Autonomie – bis heute nicht, wie der aktuelle Katalonien-Konflikt zeigt. Der moderate Rizal ist enttäuscht. 1891 veröffentlicht er daher sein zweites, radikaleres Werk „El Filibusterismo“ (Der Aufruhr). Darin wird das Aufbegehren gegen die Kolonialmacht thematisiert, aber nicht propagiert. Gleichwohl wird er dadurch endgültig zum Staatsfeind. Seine Werke werden verboten, seine Eltern zur Strafe enteignet.
Nun fehlt das Geld für den kostspieligen Aufenthalt in Europa. Gegen den Rat seiner Freunde kehrt er 1892 zurück in seine Heimat – und wird umgehend vor Gericht gestellt. Man verbannt ihn auf die Insel Mindanao, wo er sich sozial engagiert: Er gründet eine Schule, ein Krankenhaus, eine Trinkwasserversorgung. Um den Druck auf seine Eltern zu mindern, meldet er sich nach Ende der Verbannung 1896 in eine Art Bewährungskompanie – als Militärarzt auf dem ebenfalls spanischen Kuba. Da bricht auf den Philippinen eine Revolution aus, doch sie scheitert. Noch an Bord seines Schiffes wird Rizal verhaftet und nach Hause zurückgebracht. Obwohl er nachweislich nicht an der Vorbereitung des aktuellen Umsturzversuches beteiligt ist, wird er zum Tode verurteilt.
In der Nacht vor seiner Hinrichtung schreibt er das Gedicht „Mi último adiós“ (Mein letztes Lebewohl). Seine Schwester schmuggelt es aus dem Kerker, heute ist es ein literarischer Klassiker der philippinischen Nation. Am 30. Dezember 1896 wird Rizal um 7 Uhr morgens in Manila standrechtlich erschossen.
50 Jahre Warten auf Freiheit
Die spanische Herrschaft überlebt diesen Justizmord nur um zwei Jahre: 1898 versenken die USA die spanische Flotte vor Manila und erobern die Philippinen. Nach blutiger Besetzung durch die Japaner im Zweiten Weltkrieg und Befreiung durch US-Truppen unter General MacArthur wird das Land 1946 unabhängig, erhält eine Verfassung nach Vorbild der USA. Eine freiheitlich-liberale Demokratie genießt es dennoch lange nicht.
Die jeweiligen Regime nutzen, ja man muss sagen: missbrauchen das Gedenken an Rizal, das im Volke tief verwurzelt ist. Hier wird er verehrt wie Mahatma Gandhi in Indien oder Nelson Mandela in Südafrika.
Der Platz seiner Hinrichtung in der Hauptstadt Manila wird in Rizal-Park umbenannt, ein Denkmal errichtet, geschaffen von dem Schweizer Künstler Richard Kissling. Es trägt die Aufschrift: „Death does not matter if one dies for those one loves – for his country and for others dear to him“ (Der Tod zählt nicht, wenn man für jene stirbt, die man liebt – für sein Land und für andere, die einem lieb sind). Die Orte seines Leidensweges sind nationale Gedenkstätten, der Tag seiner Hinrichtung Nationalfeiertag, zwei Universitäten des Landes tragen seinen Namen.
Denkmal in Wilhelmsfeld
Auch in Wilhelmsfeld werden Stätten zu seiner Erinnerung geschaffen. Fast 70 Jahre nach Besuch Rizals findet der evangelische Pfarrer Gottlob Weber im Pfarrhaus Dokumente darüber, beginnt zu recherchieren.
In Sichtweite jenes Zimmers, in dem Rizal im Pfarrhaus gewohnt hat, wird eine Gedenktafel angebracht und am 4. Januar 1961 von der Frau des philippinischen Botschafters enthüllt. Zudem schenkt die Wilhelmsfelder Kirchengemeinde dem philippischen Volk den alten Sandsteinbrunnen aus dem Pfarrgarten, der im Luneta-Park von Manila aufgestellt wird.
1973 entsteht in Wilhelmsfeld die Idee, ein Denkmal für seinen berühmten Besucher zu errichten. Gestaltet von dem philippinischen Künstler Anastacio Caedo, wird es am 13. August 1978 in einem Park enthüllt, der nach Rizal benannt ist. Alljährlich wird hier des berühmten ehemaligen Bewohners gedacht.
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